Franz Werfel: Jeremias. Höret die Stimme. Benno 2022

Wenn er jetzt auf seinen Wanderungen im Morgenrot vor ein Haus trat, die Sonne über den Hügelsaum tauchte und das matte Laub eines alten Eichbaums wie eine grüne Feuersbrunst aufknatterte, dann war Gottes Freude da. Wenn gegen Abend die Lämmerherden wie schwarze und weiße Wogenfluten über die anemonenreichen Bergweiden in die Niederung getrieben wurden, die Mahnung der Schatten wuchs und um die Tränke das durstige Vieh sich drängte, dann war Gottes Freude da, unbekannt warum. Sie überfiel ihn beim Anblick spielender Kinder oder schreitender Frauen, die vorsichtig die vollen Tonkrüge auf, den Köpfen wiegten. Jederlei Bild, einen Blick, ein Wort konnte sie zum Anlass nehmen, um Jirmijah jäh zu überwältigen. Gottes Freude, der Ursprung der Weltschöpfung, der Brunnen der Anbetung und des Lobgesanges, die Einung des Hervorbringenden mit dem Hervorgebrachten, des Vaters mit seinen Kindern, die Befriedigung der tödlichen Ungeduld. Von seiner Freude lief einen unendlich matten Abstrahl der Herr in Jirmijahs Verzückungen leuchten, damit er erkenne. Und er erkannte in diesen Augenblicken, dass es die urerste Absicht Gottes gewesen sei, seine Freude zum unabänderlichen und ununterbrochenen Zustand der Kreatur zu machen, zu einem ewigen Lied der selig erwiderten Liebe.

Werfel, Höret die Stimme, Erstausgabe 1937, hier Fischer 1996, S. 115

Das Jeremiasbuch von Franz Werfel ist ein „biblischer Roman“ (Georg Fischer SJ) und zugleich spirituelle Literatur in größter Dichte und Tiefe. Vom Propheten Jeremia spannt sich das Netz der biblischer Bezüge über die heilige Schrift. Mit dem Propheten gleitet man durch die profundeste Erforschung des Lebens des Glaubens, die es in deutscher Sprache gibt.

Werfel hat wohl selbst die eigenen Familie nachgesagt, er habe sein Judentum aufgegeben und sei Katholik geworden (Carl Steiner). Was davon stimmt, kann dahingestellt bleiben. Werfel ist in jedem Fall ein Gottsucher und Kenner. Sein Jeremia predigt Gottes Wort, das die Welt umspannt.

Wehe dem, der da glaubt, der Herr liebe ein Volk mehr als das andre und er halte seine Hand über Jakob um Jakobs willen. Um seiner Welt willen hält er die Hand über Jakobs Rest. Doch wie lange noch? Über Samaria aber und die nördlichen Stämme sandte er seinen Gerichtstag.

Höret die Stimme, S. 119

Jirmijah gab sich keiner Täuschung hin. Nicht Gott war undeutlich, sondern der Mensch. … Der Herr und er waren ganz zweierlei.

Höret die Stimme, S. 159

Höret die Stimme: das Buch ist zugleich ein Lehrbuch. Die „einzig entscheidende Stimme ist die des biblischen Gottes […]. Sein Sprechen ist unverfügbar; selbst Jeremia ist diesbezüglich unsicher, muss auf es warten und kann es nur in einem äußerst mühsamen Prozess in seiner reinen Form niederschreiben“ (Georg Fischer SJ).




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