Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele. Paulinus 2022

Über Thérèse de Lisieux sind hunderte Werke geschrieben worden, fromme und theologische, grandiose und bescheidene. Ein Ende ist nicht in Sicht. Um die grande dame kommt keiner herum, die im Französischen „la petite Thérèse“ genannt wird, um sie von Theresia von Avila zu unterscheiden, „la grande Thérèse„.

Den vollständigen deutschen Text gibt es hier, in der Trierer Übersetzung von 1953. Auf französisch bietet der Karmel selbst die vollständigen Texte. Auf Ad-Fontes taucht Therese auch in einigen Biographien wieder auf.

Aus dem Manuskript A folgt hier die berühmte Glasgeschichte:

Das Innerste meiner Seele vertraute ich Pauline an. Sie wusste alle meine Zweifel zu klären. Eines Tages drückte ich ihr meine Verwunderung darüber aus, dass der liebe Gott nicht allen Auserwählten im Himmel die gleiche Glorie zuteil werden lasse. Ich fürchtete, sie seien deshalb nicht alle glücklich. Daraufhin schickten Sie mich Papas großes Trinkglas holen, stellten es neben meinen kleinen Fingerhut und füllten beide mit Wasser. Dann fragten Sie mich, welches von beiden Gefäßen mir voller zu sein scheine. Ich erwiderte, eines sei so voll wie das andere und es sei unmöglich, noch mehr Wasser hineinzugießen. Alsdann machte mir mein Mütterchen begreiflich, dass auch im Himmel der letzte Auserwählte den ersten nicht beneidet. So verstanden Sie es, die größten Geheimnisse meinem Fassungsvermögen anzupassen und meiner Seele jene Nahrung zukommen zu lassen, die sie notwendig hatte.

– Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele, A

Aus dem Manuskript B: in der Kirche will ich die Liebe sein!

Um was ich bitte, ist die Liebe! Ich kann nur eines: Dich lieben, o Jesus! Die glänzenden Werke sind mir versagt. Ich kann das Evangelium nicht verkünden, mein Blut nicht vergießen… Was tut das? Meine Brüder arbeiten an meiner Statt, und ich kleines Kind, bleibe ganz nahe dem königlichen Thron – ich liebe für jene, die kämpfen.

Aber wie werde ich meine Liebe bekunden, da die Liebe sich doch durch Werke erweist? Nun gut: das kleine Kind wird Blumen streuen… Mit seinem Duft wird es den göttlichen Thron umgeben. Mit seiner silberklaren Stimme wird es das Loblied der Liebe singen!

Ja, mein Vielgeliebter, so möge mein flüchtiges Leben sich verzehren vor Dir. Ich habe keine anderen Mittel, um Dir meine Liebe zu beweisen, als Blumen zu streuen: das heißt, kein Opfer, keinen Blick, kein Wort vorübergehen lassen, aus den kleinsten Handlungen Nutzen ziehen und sie aus Liebe tun. Ich will leiden aus Liebe und mich selbst aus Liebe freuen: so werde ich Blumen streuen. Nicht eine einzige werde ich finden, ohne sie für Dich zu entblättern… Und dann werde ich singen – immer singen, selbst wenn ich meine Rosen mitten unter den Dornen pflücken muss. Und mein Gesang wird um so melodischer klingen, je länger und schmerzlicher die Dornen sind.

Aber mein Jesus, zu was wollen Dir meine Blumen und meine Gesänge dienen? Oh, ich weiß es wohl: dieser duftige Regen, die hinfälligen und wertlosen Blätter, dieser Gesang der Liebe eines so kleinen Herzens werden Dich dennoch entzücken. Ja, diese Nichtigkeiten werden Dir Freude bereiten: sie werden der triumphierenden Kirche ein Lächeln abgewinnen – sie wird mit ihrem kleinen Kinde, das diese entblätterten Rosen wieder sammelt, spielen, und indem es diese durch Deine göttlichen Hände gehen lässt, damit Du sie mit unendlichem Werte bekleidest, wird es sie auf die leidende Kirche herabstreuen, um ihre Flammen zu ersticken, und auf die streitende Kirche, um ihr zum Sieg zu verhelfen.

O mein Jesus, ich liebe Dich, ich liebe die Kirche, meine Mutter, ich vergesse nicht, dass die geringste Bewegung aus reiner Liebe ihr nützlicher ist, als alle anderen Werke zusammen (Johannes vom Kreuz). Aber ist die reine Liebe wirklich in meinem Herzen? Sind meine unermeßlichen Wünsche nicht ein Traum, eine Verrücktheit? Oh, wenn dem so ist. dann erleuchte Du mich, Du weißt ja, dass ich die Wahrheit suche. Sind meine Wünsche vermessen, dann laß sie verschwinden, denn diese Wünsche sind für mich das größte Martyrium. Und dennoch gestehe ich: wenn ich diese höchsten Regionen, nach denen meine Seele verlangt, nicht eines Tages erreiche, dann werde ich in meinem Martyrium, in meiner Torheit, eine größere Süßigkeit verkostet haben, als ich sie in den ewigen Freuden genießen werde; es sei denn durch ein Wunder, dass Du mir das Andenken an meine irdischen Hoffnungen wegnähmest. Jesus! Jesus! Wenn schon die Sehnsucht nach der Liebe so köstlich ist, was wird es erst sein, wenn man sie besitzt und sich ihrer auf immer erfreut?

Wie mag eine so unvollkommene Seele wie die meine sich nach der Fülle der Liebe sehnen? Welches Geheimnis ist das? Warum, o mein einzig geliebter Freund, behältst Du diese unermeßliche Sehnsucht nicht den großen Seelen vor, den Adlern, die in den Höhen kreisen? Ach, ich bin nur ein armes Vögelchen, mit einem leichten Flaum bedeckt. Ich bin kein Adler, ich habe lediglich seine Augen und sein Herz… Ja, ungeachtet meiner äußersten Kleinheit wage ich es, die göttliche Sonne fest anzuschauen und verbrenne vor Begierde, mich zu Ihr hinaufzuschwingen. Ich möchte fliegen, ich möchte es den Adlern gleichtun. Aber alles, was ich zu tun vermag, ist dieses: meine kleinen Flügel emporzuheben. Es liegt nicht in meiner Macht zu fliegen.

Was wird aus mir werden? Werde ich vor Schmerz sterben, wenn ich mich so ohnmächtig sehe? O nein, ich werde darüber noch nicht einmal betrübt sein. Mit einer kühnen Hingabe will ich da verharren und bis zu meinem Tode meine göttliche Sonne unentwegt anblicken. Nichts vermag mich zu erschrecken, weder der Wind noch der Regen. Und wenn schwere Wolken nahen und mir den Liebesstern verbergen, wenn mir scheint, ich glaube nicht, dass es etwas anderes als die Nacht dieses Lebens gebe, dann wird das der Augenblick der vollkommenen Freude sein – der Augenblick, wo es gilt, mein Vertrauen bis zu den äußersten Grenzen auszudehnen, in dem ich mich wohl hüte, den Platz zu wechseln, weil ich weiß, dass über all diesem traurigen Gewölk meine zarte göttliche Sonne noch strahlt!

– Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele, B




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