Franz von Sales: Philothea. Anleitung zum frommen Leben. Be+Be-Verlag 2022

Die „Philothea“ ist ein Klassiker der spirituellen Literatur – und das völlig zu Recht! Durch diesen Ratgeber spricht die Lebenserfahrung und die tiefe Kenntnis der menschlichen Seele eines erfahrenen Seelenführers und Heiligen. Im Hinblick auf Fragestellungen aus nahezu allen Bereichen des geistlichen Lebens wird man hier fündig und erhält u.a. eine Einführung in Gebet und Betrachtung, die Einübung der Tugenden und den Umgang mit Versuchungen. Auch zu alltäglichen Themen wie Freundschaft und Freizeitgestaltung, Umgang mit Reichtum und Verhalten in Gesellschaft hat der heilige Franz von Sales Erhellendes zu sagen, das auch 400 Jahre später aktuell und anwendbar ist. Am besten liest man die einzelnen Kapitel abschnittsweise und lässt sie wirken.

Die neu übersetzte Ausgabe aus dem Jahr 2022 vom Be+Be-Verlag ist nicht nur hübsch eingebunden, sondern auch zu Beginn durch die Herausgeber ausführlich eingeleitet und bebildert.

Hier eine Leseprobe aus dem Kapitel XII über „Die geistliche Einkehr“:

„Jetzt, liebe Philothea, möchte ich, dass du dich strikt an meinen Rat hältst, denn in diesem Kapitel spreche ich über eines der sichersten Mittel zum geistlichen Fortschritt.

Versetze deinen Geist im Laufe des Tages so oft du nur kannst in die Gegenwart Gottes. Bediene dich dazu eines der vier Mittel, die ich dir zu diesem Zweck aufgezeigt habe. Erwäge, was Gott tut und wie du selbst handelst. Du wirst feststellen, dass Gottes Auge ununterbrochen auf dir ruht, dich mit unsagbarer Liebe betrachtet. O Herr, wirst du sagen, warum blicke nicht auch ich immer zu dir auf, wie du zu mir herunterschaust? Warum denkst du so oft an mich und ich an dich so selten? Wo sind wir denn, meine Seele? Unsere wahre Heimat ist Gott; was ist dieser Ort, an dem wir uns befinden?

Wie die Vögel ihre Nester in den Bäumen haben, um sich dort zur Ruhe zu setzen, und die Hirsche ihre Büsche und Verstecke, wo sie in Deckung gehen und im Sommer den kühlen Schatten genießen, so muss auch unser Herz täglich einen Ort finden, an den es sich bei Bedarf zurückziehen kann. Es kann der Kalvarienberg sein oder die Wunden Jesu oder ein Ort in deren Nähe. Ein Ort, an den es, auch inmitten der weltlichen Geschäfte, wie in einer Festung Zuflucht nehmen und sich stärken kann, wenn die Versuchungen es belagern. Glücklich ist die Seele, die in Wahrheit zu unserem Herrn sagen kann: ‚Du bist mir eine feste Burg‘ (Ps 30,3); ‚ein starker Schild, Schutz vor dem Glutwind, Schatten in der Mittagshitze‘ (Sir 34,19).

Gewöhne dir also an, täglich mehrmals eine Einkehr in die Einsamkeit deines Herzens zu unternehmen, auch während du äußerlich von Gesprächen und Geschäften umgeben bist. Die Menschen, die um dich sind, können diese Einkehr in die Einsamkeit deines Geistes auf keine Weise verhindern, denn sie umgeben dich nur äußerlich und können nicht bis zu deinem Herzen vordringen, welches ungestört allein mit Gott bleiben kann. König David praktizierte diese geistliche Einkehr inmitten seines mit Staatsgeschäften angefüllten Alltags, was er in seinen Psalmen mehrfach bezeugt, etwa wenn er sagt ‚O Herr, ich bleibe immer bei dir‘ (Ps 72,23); ‚Ich habe den Herrn beständig vor Augen‘ (Ps 15,8); ‚Ich erhebe meine Augen zu dir, der du hoch im Himmel thronst‘ (Ps 122,1); ‚Meine Augen schauen stets auf den Herrn‘ (Ps 24,15). Selten ist ein Gespräch so ernst, dass man sich nicht von Zeit zu Zeit in diese göttliche Einsamkeit zurückziehen kann. […]

Der heilige Elzear, Graf von Arian, war seit langer Zeit fern von seiner geliebten und reinen Delphine, als sie einen Boten schickte, um sich nach ihm zu erkundigen. Er ließ ihr folgende Antwort überbringen: ‚Mir geht es bestens, meine geliebte Frau. Und wenn du mich treffen willst, suche mich in der Seitenwunde unseres geliebten Heilands, denn das ist der Ort, an dem ich wohne und dort wirst du mich immer finden. Woanders suchst du mich vergeblich.‘ Er war wahrhaftig ein christlicher Ritter!“ (Franz von Sales 2022: S. 136-138).

Schön auch das Kapitel XIX über „Wahre Freundschaft“:

„Liebe jeden Menschen mit aufrichtiger Nächstenliebe, aber wähle dir nur die zu Freunden, mit denen du über gemeinsame Tugenden sprechen kannst. Je erlesener die Tugenden sind, die als Grundlage für deine Freundschaft dienen, desto wertvoller wird auch die Freundschaft selbst sein. Teilt ihr ein gemeinsames Interesse für die Wissenschaften, wird eure Freundschaft gewiss sehr lobenswert sein. Noch besser ist es, wenn ihr ein Interesse für die Tugenden teilt und zusammen über Klugheit, Diskretion, Stärke und Gerechtigkeit sprechen könnt. Wenn eure Gespräche aber um Nächstenliebe, Frömmigkeit, christliche Vollkommenheit und Gott kreisen, wird eure Freundschaft am allerkostbaren sein; kostbar, weil sie von Gott kommt; kostbar, weil sie nach Gott strebt; kostbar, weil sie in Gott wohnt und in Gott ewig leben wird. Wie gut ist es, wenn wir auf Erden schon lernen, so zu lieben, wie wir im Himmel lieben werden; uns in diesem Leben schon so gegenseitig schätzen, wie künftig im anderen!“ (Franz von Sales 2022: S. 229)




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