Carl Sonnenschein: Notizen aus den Weltstadtbetrachtungen. Knecht 1951

Carl Sonnenschein war einer der großen Berliner Missionare. Eigentlich Wuppertaler landete er in der Großstadt und wurde zum Seelsorger der Kleinen und Großen, außerdem zum fröhlich-frommen Chronisten der verrückten 20er. All das hat sich in den wunderbaren „Notizen“ niedergeschlagen, die keine Ecke des Christlichen auslassen. Ein Genuß !

In einer Kaffeegesellschaft sagte neulich eine Dame, seit ihr Kind gestorben sei, glaube sie nicht mehr an Gott und gehe natürlich auch nicht mehr in die Kirche. Es könne keinen gütigen Gott geben, wenn so etwas möglich sei. Diese Art Menschen behandeln unsern Herrgott wie das Hauptfernsprechamt seine Teilnehmer. Wenn sie nicht zahlen, wird die Leitung gesperrt. Und wenn man anrufen will, heißt es: Verbindung kann nicht hergestellt werden. Der einzige Unterschied ist der, daß unser Herrgott die Verbindung schon herstellen kann, wann und wie er will. Die Menschen sind völlig in Gottes Hand.

– Carl Sonnenschein: Notizen aus den Weltstadtbetrachtungen. Knecht 1951, 10

Über die gothische Kirche von Rathenow:

Auf die heilige Handlung am Altartisch ist alles gerichtet, und die breitgespannten goldenen Flügel seiner Schnitzwerke rufen feierlich in die Kirche, daß hier das große Geschehnis sich vollendet. Dieser gotische Hochaltar jubelt Sonnenlicht und Weihrauchwolke. Seine Kerzen beten, und die stolze Glocke klingt in die weiten Schiffe über andächtig gebeugte Häupter. Wandlung in einer katholischen Kirche ist religiöser Höhepunkt. Segen in funkelnder Pracht, Segen, vom Tantum ergo eingeleitet, über Menschen golden erhoben, ist religiöse Weihe und Zwiesprache des Gottes mit dem Menschen. Gewiß hat auch die Kanzel ihre Ekstase. Aber diese Ekstase grenzt so nahe an Konzertsaal und Theaterbühne! Gleitet so leicht in die Verehrung des gutsprechenden Menschen! Das Gebet vor dem stillen Tabernakel, die heilige Messe am schwarzdrapierten Altar, das klagende oder jubelnde Hochamt mit Epistel und Evangelium, mit Gloria, Credo und Ite missa est, sind so viel sachlichere Dinge. Sind Kultus und Liturgie. Sind Handlung und Mysterium. Nie ist mir, wie in Rathenow, an der Empore, so klar geworden, eine wie starke Umstellung die gottesdienstliche Auffassung durch die Reformation erfahren hat. Wieviel Elementarreligiöses in den letzten Jahrhunderten der neuen Zeit entglitten ist. Die gotische Kirche des Mittelalters hat die Dinge doch organischer und grandioser gesehen. Wir müssen die erloschenen Lichter wieder anzünden und den Altären dieser Dome wieder Leben geben.

– Carl Sonnenschein: Notizen aus den Weltstadtbetrachtungen. Knecht 1951, 18




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