Sigrid Undset: Kristin Lavranstocher. Drei Bände. 1929-1998

Sigrid Undset: Kristin Lavranstocher. Band 1. Der Kranz. Rütten & Loening 1929
Sigrid Undset: Kristin Lavranstocher. Band 2. Die Frau. Rütten & Loening 1926
Sigrid Undset: Kristin Lavranstocher. Band 3. Das Kreuz. Herder 1998

Wer sich in den Bann der Lavranstochter begiebt, kommt daraus nicht wieder hervor. An Sigrid Undsets Hand gleitet man hinein in das christliche Mittelalter Norwegens, in eine Zeit von Sünde und Liebe, Hingabe und Gebet, Rohheit und Zärtlichkeit, eine Welt, die man bald dafür lobt, dass sie aus drei Bänden besteht und so bald nicht wieder endet.

Sie spreche selbst, damit immerhin einige Töne dieses großen Konzerts anklingen:

Jesus, ihre guten Werke! Sie hatte die Gebete gesprochen, die man ihr eingelernt hatte. Sie hatte die Almosen weitergegeben, die ihr der Vater in die Hände gelegt hatte, sie war ihrer Mutter an die Hand gegangen, wenn diese die Armen gekleidet, die Hungrigen gesättigt und die Wunden der Kranken verbunden hatte -.
Die bösen Werke aber waren ihre eigenen.
Sie hatte sich an alle angeklammert, die ihr Schutz und Stütze boten. Bruder Edvins liebevolle Ermahnungen, seine Trauer über ihre Sünde, seine zärtliche Fürbitte, all das hatte sie angenommen – und hatte sich in brennende Sündenlust hinausgeschleudert, sobald sie außerhalb des Lichtkreises seiner alten milden Augen war. In Ställen und Scheunen hatte sie sich weggeworfen und kaum Scham darüber empfunden, daß sie die gute und würdige Frau Groa betrog, sie hatte die freundliche Fürsorge der frommen Schwestern entgegengenommen und war nicht vor Scham vergangen, als die Nonnen dem Vater ihre Bescheidenheit und ihr sittsames Betragen rühmten.
O Vater. Am schlimmsten war der Gedanke an ihn. – Der Vater, der ihr nicht ein einziges unsanftes Wort gesagt hatte, als er sie in diesem Frühjahr besuchte -.
Simon hatte es verschwiegen, daß er seine Verlobte mit einem Mann in einer Herberge für fahrende Kriegsleute ertappt hatte. Und sie hatte ihn die Schuld für ihren Wortbruch auf sich nehmen lassen, hatte ihn vor ihrem Vater ihre Schuld tragen lassen -. Ach, aber der Vater, das war das Schlimmste. Nein, die Mutter, das war noch schlimmer. Sollte ihr Naakkve aufwachsen, um dereinst seiner Mutter so wenig Liebe zu erweisen, wie sie ihrer eigenen Mutter gezeigt hatte – oh, das könnte sie nicht ertragen. Die Mutter, die sie geboren und an ihrer Brust genährt und über ihr gewacht hatte, wenn sie krank war, die Mutter, die sie gewaschen und ihr das Haar gekämmt und sich darüber gefreut hatte, daß es schön war. Und in der ersten Stunde, da es Kristin dünkte, sie könnte die Hilfe und den Trost ihrer Mutter brauchen, da hatte sie erwartet, daß die Mutter trotz aller Verachtung zu ihr. kommen würde. Du darfst glauben, deine Mutter wäre hierhergekommen, um bei dir zu sein, wenn sie gewußt hätte, daß es dir ein Trost wäre, so hatte der Vater gesagt, o Mutter, Mutter, Mutter-!
Sie dachte an das Wasser aus dem Brunnen daheim. Es sah rein und klar aus, wenn es in den Holznäpfen stand. Doch der Vater besaß einen Glasbecher, und wenn er diesen mit Wasser füllte und die Sonne schien hindurch, so war es trübe und voller Unreinheit-.
Ja, Herre König, jetzt sehe ich, wie ich bin!

– Sigrid Undset: Kristin Lavranstochter, Gesamtausgabe Cassirer 1950, 409 f.

Sie blickte zu Husaby hinab und dachte an das Leben ihrer Söhne. Jetzt, da der Hof im Abendlicht dalag wie ein Traumbild, das ausgelöscht werden konnte, jetzt, da die Angst um das ungewisse Schicksal der Kinder ihr Herz durchbebte, fiel es ihr ein: Nie hatte sie Gott aus vollem Herzen für die reichen Früchte gedankt, die ihre Mühe in allen diesen Jahren getragen hatte. Nie hatte sie so richtig dafür gedankt, daß ihr siebenmal ein Sohn beschert worden war.

Aus der Kuppel des Abendhimmels, von den Gemeinden untel‘ ihrem Blick drang murmelnd der Messeton herauf, den sie tausendmal gehört hatte, die Stimme des Vaters, die ihr die Worte erklärt hatte, als sie ein Kind war und an seinem Knie stand: so singt Sira Eirik im Präfatio, wenn er sich dem Altar zuwendet, und das heißt in unserer Sprache:

„Wahrlich, es ist würdig und recht, geziemlich und erlösend, daß wir immer und an allen Orten dir danken, Herr, unser Gott, allmächtiger Vater, ewiger Gott-„

– Sigrid Undset: Kristin Lavranstochter, 640 f.




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