Die Fioretti sind eine Legendensammlung um das Leben Franz von Assisis. Aus dem 14. Jahrhundert stammend haben sie von ihrer Anmut nichts eingebüßt. Manche sind richtige Lehrstücke.
Das schönste der Fioretti ist das Gespräch zwischen Franziskus und Bruder Leo über die wahre Freude:
Zur Winterszeit [im Jahr 1218] wanderten an einem bitterkalten Tage der Heilige Franziskus und Bruder Leo von Perugia her gegen Porziuncola. Die beißende Kälte setzte ihnen jämmerlich zu; Bruder Leo ging schweigend voraus, als Franziskus auf einmal zu sprechen anhob.
8. Fioretto von Franz von Assisi, Pattloch 1989
„Bruder Leo, wenn auch die Minderen Brüder überall in ihrer Gottverbundenheit ein Leben führen und die Menschen damit im rechten Sinn erbauen – schreibe auf und präge es dir ständig ein: Darin west nicht die vollbeseligende Freude!“
Sie schritten ein Stück des weiter und Franziskus ergriff zum andern Mal das Wort: Bruder Leo, selbst wenn ein Minderer Bruder den Blinden das Augenlicht schenkte, den Krüppeln die verkrümmten Glieder heilte, die bösen Geister und austriebe, die Tauben hören, die Stummen reden und die Lahmen gehen ließe, ja, wenn er Größeres noch vollbrächte und Tote an ihrem vierten Tage aus dem Grabe wieder ins Leben zurückriefe – schreibe: Darin west nicht die Freude!“
Und nach einer kleinen Weile ergriff er zum dritten Mal das Wort: „Bruder Leo, auch wenn ein Minderer Bruder die Sprachen aller Völker verstünde und ihm die Geheimnisse aller Wissenschaften kund wären und er sich in allen Büchern auskennen würde, wenn er selbst die Prophetengabe hätte und nicht bloß die Zukunft, sondern auch die verborgenen Tiefen des Herzens und der Seele zu ergründen wüßte – schreibe dennoch: Darin west nicht die Freude!“
Weiter schritten sie in der Kälte des Wintertages, und Franziskus hub von neuem an: „Bruder du Lämmlein Gottes, wenn selbst ein Minderer Bruder mit Engelszungen die Bahnen der Sterne und die Kräfte der Pflanzen zu deuten wenn er den Weg zu allen Schätzen der Erde weisen könnte und er den Wesensgrund aller und Fische und der ganzen Tierwelt, des Menschen, der Bäume, der Gesteine, der Wurzeln und des Wassers zu durchschauen vermöchte – schreibe: Darin west nicht die vollbeseligende Freude!“
Und nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Bruder Leo, auch wenn ein Minderer Bruder so mitreißend zu predigen verstünde, daß sich alle Ungläubigen zum Christenglauben bekehrten – schreibe: Darin west nicht die vollbeseligende Freude!“
„O Bruder selbst wenn ein Bote käme und uns die Nachricht brächte, alle Doktoren der Pariser Universität seien in unseren Orden und alle Erzbischöfe, Bischöfe und Prälaten der ganzen Welt samt den Königen von Frankreich und England seien Mindere Brüder geworden – schreibe trotz dem: Darin west nicht die vollbeseligende Freude!“
Während er so hatten sie wohl zwei Meilen des Weges zurückgelegt. In neugieriger Verwunderung fragte schließlich Bruder Leo: „Vater, ich bitte dich um Gottes willen, sage mir, worin die vollbeseligende Freudewesen soll“ Franziskus gab zur Antwort: „Stelle dir vor: Wir durchnäßt vom Regen, schlotternd vor Kälte, bedeckt mit Schmutz und geplagt von Hunger, in Porziuncola an und klopfen an die Pforte. Unwirsch erscheint der Pförtner an der Tür und herrscht uns an: „Wer seid ihr!“, und wir antworten: „Zwei eurer Brüder!“, und er fährt uns an: „Ihr Lügner! Zwei Landstreicher seid ihr, zwei Betrüger, die die Gegend unsicher machen und die Almosen der Armen ergaunern! Macht, daß ihr weiterkommt!“ Und ohne Einlaß, hungrig und frierend vor Kälte und Nässe stehen wir draußen im Schnee bis zum Einbruch der Nacht: Wenn wir solche Schmähung, solche Unbill und eine solch hartherzige Abweisung geduldig ertragen, ohne uns zu betrüben und ohne über den Pförtner zu murren, und uns in demütiger Liebe eingestehen, daß er uns wahrhaft durchschaut und daß Gott durch ihn zu uns gesprochen hat – schreibe, Bruder schreibe: Darin west die vollbeseligende Freude!
Stell dir weiter vor: Wir klopfen wiederum an. Er aber stürzt zornentbrannt heraus, um uns als lästige Störenfriede mit Schimpf und Ohrfeigen fortzujagen und uns nachzurufen: „Schert euch fort, ihr gemeinen Spitzbuben! Geht zur Herberge der Landstreicher! Hier gibt es für euch kein Essen und keine Unterkunft!“ Wenn wir auch dies in Geduld und mit frohsinniger, ungebrochener Liebe hinnehmen – schreibe, Bruder Leo: Darin west die vollbeseligende Freude!
Gezwungen durch Hunger, Kälte und Nacht nähern wir uns abermals der Pforte. Mit Tränen in den Augen rufen wir den Pförtner und flehen ihn an, er möge uns um der Liebe Christi willen wenigstens Einlaß gewähren. Wütend schreit er zurück: „Unverschämtes Gelichter, ich werde euch leuchten!“ Bewaffnet mit einem Knotenstock, reißt er die Tür auf, packt uns an der Kapuze, wirft uns zu Boden, so daß wir uns im Schnee wälzen müssen, während er uns mit seinem Knüppel Hieb auf Hieb ver setzt: Wenn wir all das mit unerschütterlichem Gleichmut ertragen und im Gedenken an die Leiden Christi, des Hochgepriesenen, Freude darüber empfinden, daß wir um seiner Liebe willen mit ihm im Leiden verbunden sein dürfen- schreibe, o Bruder Leo, schreibe, daß daraus die vollbeseligende Freude ihr Wesen gewinnt!
Und nun, Bruder Leo, zieh daraus die Lehre: Sich selbst zu überwinden und freiwillig um der Liebe zu Christus willen Leiden und Ungerechtigkeit zu dulden, Schmach und Mühsal auf sich zu nehmen, übersteigt selbst jene Gnaden und Gaben des Heiligen Geistes, mit denen Christus seine Freunde beschenkt. Der Gnadengaben Gottes können wir uns nicht rühmen, da sie nicht unser, sondern Gottes sind. Daher sagt der Apostel: „Was ist dein, das du nicht von Gott empfangen hättest? Hast du es aber empfangen, warum rühmst du dich seiner, als wäre es dein eigen?“ Aber unter dem Kreuz der Drangsal und des Leids dürfen wir uns rühmen – weil es uns gehört und weil, mit den Worten des Apostels – „ich mich nicht rühmen will, außer es geschehe im Zeichen des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus“.