Die „Imitatio Christi“ ragt als gewaltige Perle aus der Spiritualität des Mittelalters heraus. Sie ist immer wieder gelesen, rezitiert und durchbetet worden. Therese von Lisieux konnte als Kind zur allgemeinen Erbauung ganze Kapitel auswendig hersagen.
Das Büchlein steht online bei Gutenberg.de, in der unübertroffenen deutschen Übersetzung von Sailer. Das ändert nichts daran, dass man es für jede Reise als Taschenbüchlein daheim haben sollte.
Hier kommt Thomas von Kempen selbst, mit seinen klaren, tiefen, schlichten Worten:
Wie man Frieden in sich haben und besser werden kann.
Wir könnten viel Ruh und Frieden haben / wenn wir Kopf und Herz nicht so sehr marterten mit dem / was andere reden und tun / und was doch unser Gewissen gar nicht berührt. Wie kann der lange in Frieden leben / der sich so gern in fremde Geschäfte mischt / der von außen so viele Anlässe sucht / der so selten oder nur flüchtig sich in sich sammelte? Selig die / welche die rechte Einfalt des Herzens besitzen / denn sie werden viel Frieden haben!
Warum sind doch einige Heilige zu einer so reinen Vollkommenheit und zu einer so hohen Beschaulichkeit gelangt? Weil sie von allen irdischen Begierden sich loszumachen strebten / deswegen konnten sie mit ihrem innersten Gemüte Gott allein anhangen und frei und eins mit sich in sich verbleiben. Uns beherrschen die Leidenschaften in uns / die dem armen Herzen so viel zu schaffen geben / und die vergänglichen Dinge außer uns / die dasselbe Herz in steter Bewegung halten und von einer Empfindung zur andern jagen. Wir erkämpfen auch selten über ein einziges Laster einen vollkommenen Sieg und es fehlt uns durchaus an dem verzehrenden / heiligen Eifer / täglich besser zu werden; deshalb bleiben wir immer so lau oder werden am Ende gar kalt. Wären wir uns selbst ganz abgestorben / wäre unser Innerstes nicht im geringsten in das geheime Spiel der Neigungen verflochten und darin gebunden / o dann könnten auch wir göttlicher Dinge inne werden und von der himmlischen Beschaulichkeit schon hier einen Vorgenuß bekommen. Das größte / das einzige Hindernis sind wir uns selbst / wir sind nicht frei von Leidenschaft und Lüsternheit und haben nicht Mut genug / den schönen Lebensweg der Heiligen zu betreten. Es braucht nur eine kleine Plage an unsre Tür zu klopfen / sogleich ist all unser Mut dahin / und wir sehen wieder nach menschlichen Tröstungen uns um.
Hätten wir den entschlossenen Mut / wie tapfere Kriegsmänner auf dem Schlachtfeld zu stehen / schnell würden wir die Hilfe des Herrn über uns vom Himmel kommen sehen. Denn er will denen / die streiten und auf seine Gnade trauen / so gewiß Hilfe senden / als gewiß ist / daß er uns Anlaß zum Streite werden ließ / damit wir siegen lernen sollen. Wenn wir unsere Fortschritte im Guten nur immer in jene äußerlichen Übungen setzen / so wird unsere Andacht bald zu Ende sein. An die Wurzel müssen wir die Axt legen / damit wir von den ungeordneten Neigungen rein werden und einen stillen Sinn und ungetrübten Seelenfrieden bekommen mögen.
Wenn wir in jedem Jahr nur ein Laster ausrotteten / so würden wir bald vollkommene Männer werden. Aber jetzt zeigt nicht selten sich das Gegenteil: wir müssen gestehen / daß wir in den ersten Tagen unsrer Bekehrung besser und reiner waren / als wir jetzt nach vielen Jahren es sind. Der Eifer im Guten und das Gute selbst sollten mit jedem Tage in uns zunehmen; und jetzt wird es schon als eine Seltenheit angesehen / wenn jemand nur noch einen Funken des ersten Eifers in sich erhalten konnte. Wenn wir nur anfangs ein wenig Gewalt uns antun möchten / so würde in der Folge alles noch einmal so leicht und mit Freude getan sein.
Es ist schwer / wider seine Angewöhnung zu handeln / aber noch schwerer / wider seinen eigenen Willen anzugehen. Doch wenn du geringe / leichte Hindernisse nicht zu beseitigen vermagst / wie wirst du große / schwere Hindernisse aus dem Weg schaffen? Tu deinen Neigungen Widerstand gleich in ihrem Entstehen und mache dich durch frühe Entwöhnung von aller bösen Angewohnheit los / damit aus einer geringen Beschwernis nicht nach und nach eine größere werde. O könntest du begreifen / wieviel du selbst an innerem Frieden gewinnen / und was für große Freude du andern bereiten würdest / wenn du von ganzem Herzen gut sein und recht tun möchtest: o ich denke / du würdest mehr Sorge darauf wenden / immer größere Fortschritte in dem Leben des Geistes zu machen.
– Thomas von Kempen, Imitatio Christi, 11. Kapitel des 1. Buchs
Von der Betrachtung des menschlichen Elends
Sei / wo du willst / und wende dich / wohin immer du willst / wenn du nicht zu Gott dich hinwendest / so bist du überall ein elender Mensch. Warum wirst du doch sogleich uneins mit dir / wenn die Sachen einen andern Gang nehmen / als du wünschest? Wo ist doch der Mensch / dem alles nach seinem Sinne geht? Nicht ich und nicht du und kein Mensch auf Erden kann alles nach seinem Sinn haben. Kein Mensch ist ohne Plage und Trübsal auf der Erde / kein einziger / er sei König oder Papst. Und was meinst du / wer ist wohl unter allen Menschen am besten daran? Sicherlich nur der / welcher gut und groß genug ist / für Gott etwas leiden zu können. Da klagen denn die Schwachen und Unmündigen / und derer sind viele: Sieh / dieser läßt sich’s wohl sein / ist reich und groß und mächtig und steht überall obenan. Du aber schau nur mit festem Blick hin auf die Güter des Himmels / und du wirst klar sehen / daß alle Güter der Erde die eigentlichen / rechten Güter des Menschen nicht sein können. Sie sind ja so veränderlich und eher Plagen als Güter / indem sie ihre Besitzer wahrhaft plagen mit tausendfachem Fürchten und Sorgen. Das macht doch die Seligkeit des Menschen nicht aus / daß er an zeitlichen Gütern mehr habe / als er bedarf. Genug für ihn / wenn er so zwischen Not und Überfluß durchkommen kann. Recht betrachtet ist es doch ein Elend / auf Erden zu leben. Und gerade für den / der mehr nach dem heiligen Gesetze seines Geistes leben will / gerade für den hat dieses Leben auch mehr Bitterkeit als für andere / denn er empfindet es besser als andere und sieht es heller ein / was für ein schwaches und gebrechliches Ding es um einen Menschen in diesem Leben ist. Essen / trinken / wachen / schlafen / ruhen / arbeiten und den übrigen Bedürfnissen der körperlichen Natur hingegeben sein: das ist doch alles nur Plage / und keine geringe Plage für einen Menschen / der den Umgang mit Gott bereits gekostet hat und nun gern unabhängig von allem Druck der Natur und rein von aller Sünde sein möchte.
Wahrhaftig / die Bedürfnisse des Leibes drücken in diesem Leben den innern Menschen / und der Druck ist groß. Darum bat der Prophet / der von all seiner Angst und Not gern frei gewesen wäre: Herr / rette du mich von meinen Nöten. Aber wehe denen / die ihr Elend nicht einmal erkennen / und zweimal wehe denen / die dieses elende und gebrechliche Leben noch lieben können! Es fehlt nicht an Leuten / die / obgleich sie nur den notdürftigsten Unterhalt und diesen kaum durch Handarbeit oder mit dem Bettelstab erobern können / doch mit ihrem ganzen Herzen so fest an diesem Leben hängen / daß sie auf Gottes Reich gern Verzicht leisten würden / wenn sie nur ewig hier bleiben dürften.
O des Unsinns! O des Unglaubens! So tief / so tief kann ein Mensch in den Schlamm der Erde versinken / daß er nur mehr für das Irdische Sinn und Empfindung behält! Am Ende aber wird es den Unseligen wohl noch schwer auf die Seele fallen / wie gar so niedrig und nichtig all das war / was sie geliebt haben. Ganz anders die Heiligen Gottes und alle andächtigen Freunde Jesu! Sie sahen nicht auf das, was dem Fleische schmeichelte / noch was in ihrem Zeitalter glänzte / sondern all ihr Hoffen und Trachten war aufwärts gerichtet zu dem / was gut ist und gut bleibt ewig. Ja / aufwärts gen Himmel / zu dem bleibenden und unsichtbaren Gut des Menschen flog all ihr Verlangen / damit sie nicht etwa von der Liebe zu dem / was sichtbar und vergänglich ist / möchten ergriffen und zur Erde herabgezogen werden.
– Thomas von Kempen, Imitatio Christi, aus dem 22. Kapitel des 1. Buchs
Vom vertrauten Umgang mit unserm Herrn Jesus Christus.
Ist Christus bei dir daheim / so ist alles gut und alles leicht. Ist aber Christus nicht bei dir / so ist alles bitter und hart. Wenn dir Jesus keinen inneren Trost einspricht / so ist alle andere Tröstung kraftlos. Aber ein einziges Wort aus seinem Munde bringt großen Trost in dein Herz. Ist nicht Maria Magdalena sogleich von der Stelle / wo sie weinte / aufgestanden / als Martha ihr sagte: der Meister ist da und ruft dich? Selige Stunde / wenn Jesus ruft vom Tränenbrot zur Geistesfreude! O Mensch / wie bleibt doch alles in dir so dürr und kalt ohne Jesus! Wie bist du doch so eitel und töricht / wenn du etwas außer ihm suchst! Ach / ihn nicht haben / das ist ein größerer Verlust / als die ganze Welt verloren haben.
Was kann denn die ganze Welt dir geben ohne ihn? Ohne Jesus sein / das ist eine ganze Hölle voll Angst. Bei Jesus sein / das ist ein Paradies voll lieblicher Früchte. Ist Jesus bei dir / so kann kein Feind dir schaden. Wer ihn findet / der hat einen köstlichen Schatz gefunden / ein Gut / besser als alles Gute. Wer aber ihn verliert / der hat viel verloren und mehr als die ganze Welt. Wer ohne Jesus lebt / der ist von allen Armen der ärmste. Wer bei Jesus wohl geduldet ist / der ist unter allen Reichen der Reichste. Es ist aber eine große Kunst / in Jesu Gesellschaft leben zu können. Es ist eine große Weisheit / Jesum bei sich zu behalten wissen. Sei demütig und friedsam / und Jesus ist bei dir. Sei andächtig und still / und Jesus bleibt bei dir. Du kannst ihn schnell vertreiben von dir und seine Gnade verlieren / du brauchst nur nach außen dich zu neigen dem zu / was unter dir sein soll. Und wenn du ihn vertrieben / ihn verloren hast / zu wem wirst du dann deine Zuflucht nehmen? Wo wirst du wieder einen Freund finden? Ohne Freund kann dir nicht wohl sein / und wenn Jesus nicht dein erster Freund ist / so wirst du immerzu nur traurig und wie verlassen sein. Du handelst also töricht / wenn du auf einen andern baust oder in einem andern Freude suchst. Man soll lieber die ganze Welt zum Feinde haben / als das zarte Auge Jesu betrüben. Unter allen deinen lieben Freunden soll dir also Jesus dein liebster Freund sein.
Du sollst alle Menschen um Jesu willen lieb haben / aber Jesus um seinetwillen. Christus ist vor allen andern Freunden gut und treu gefunden worden / er ist es also vor allen andern wert / geliebt zu sein. Seinetwegen und in ihm sollen dir alle / Freunde und Feinde / lieb sein. Für alle sollst du zu ihm bitten / daß alle ihn erkennen und lieb haben möchten. Laß dich nie danach gelüsten / daß du vor andern geliebt und gelobt werden möchtest. Denn das steht allein Gott zu / der nicht seinesgleichen hat. Auch sollst du nie die erste Stelle in eines Menschen Herzen / die Gott allein geweiht sein soll / einnehmen wollen / noch einen andern Menschen diese Stelle in deinem Herzen einnehmen lassen. Jesus nehme diese Stelle ein in dir und in jedem guten Menschen!
Sei rein und frei in deinem Inwendigen / und laß kein Geschöpf dich gefangen nehmen. Du mußt dein Herz nackt und bloß vor Gott bringen / wenn du dessen inne werden willst / wie süß der Herr sei. Und dazu kommst du nicht / wenn seine Gnade nicht zuvor dich ruft und an sich zieht / daß du von allen Dingen losgelöst werden und / geschieden von allen / dich einzig mit dem Einzigen vereinigen kannst. Denn kommt die Gnade Gottes in den Menschen / so vermag er alles; scheidet sie aber von ihm / so ist er wieder der arme / schwache Mensch wie vorher und taugt fast zu nichts / als seinen Rücken den Geißelhieben hinzugeben / die von allen Seiten eindringen. Das muß dich aber nicht mutlos machen / noch viel weniger dich zur Verzweiflung bringen. Lerne vielmehr / gleichmütig festzustehen / bereit zu allem / was Gottes Wille anordnet / und alles / was über dich kommt / zur Ehre Jesu zu ertragen. Denn sieh / nach dem Winter kommt der schöne Frühling / auf die Nacht der liebliche Morgen / und nach dem Sturmwetter der heitere Himmel wieder.
– Thomas von Kempen, Imitatio Christi, 8. Kapitel des 2. Buchs