Das Büchlein ist eins von Guardinis faszinierendsten Werken. Es ist keine apokalyptische Schrift, sondern eine Gegenwartsanalyse: nach dem Mittelalter war die Neuzeit das Zeitalter des „genialen“ Menschen. Diese Zeit ist im Schwinden und der Eintritt in die Moderne oder Postmoderne ist das eigentliche Ende, das Guardini hier beschreibt. Klügste Analyse von Mensch, Volk und Seele.
Guardini ist genial. Ein Optimist ist er nicht.
Die Einsamkeit im Glauben wird furchtbar sein. Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden (Mt 24, 12). Sie wird nicht mehr verstanden noch gekonnt sein. Um so kostbarer wird sie werden, wenn sie vom Einsamen zum Einsamen geht; Tapferkeit des Herzens aus der Unmittelbarkeit zur Liebe Gottes, wie sie in Christus kund geworden ist.
– Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund 1950, S. 115
Jedenfalls erfährt der Mensch die Welt nicht mehr als bergenden Inbegriff. Sie ist etwas anderes geworden, und eben als das gewinnt sie religiöse Bedeutung. Ja die sich herausbildende Haltung – richtiger gesagt, etwas in ihr- scheint der Natur sogar das zu verweigern, was Goethe in den Mittelpunkt des Verhältnisses zu ihr gestellt hat, nämlich die Ehrfurcht – wieder richtiger gesagt, jene Ehrfurchtsform, die er empfunden hat. Das zeigt sich in jenem Inbegriff von Erkenntnissen und Formvorstellungen, Tüchtigkeiten und Verfahrensweisen die wir mit dem Wort „Technik“ bezeichnen. Diese ist im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam heraufgewachsen, war aber lange Zeit hindurch von einer nicht-technischen Menschenart getragen. Es scheint, als ob der ihr [der Technik] zugeordnete Mensch erst in den letzten Jahrzehnten, endgültig im letzten Krieg, durchgebrochen sei. Dieser Mensch empfindet die Natur weder als gültige Norm, noch als lebendige Bergung.Er sieht sie voraussetzungslos, sachlich, als Raum und Stoff für ein Werk, in das alles hineingeworfen wird, gleichgültig, was damit geschieht. Für ein Werk prometheischen Charakters, bei dem es um Sein und Nichtsein geht.
– Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund 1950, S. 63
Das Kernproblem, um das die künftige Kulturarbeit kreisen, und von dessen Lösung alles, nicht nur Wohlfahrt oder Not, sondern Leben oder Untergang abhängen wird, ist die Macht. Nicht ihre Steigerung, die geht von selbst vor sich; wohl aber ihre Bändigung, ihr rechter Gebrauch. Die Wildnis in ihrer ersten Form ist bezwungen: die unmittelbare Natur gehorcht. Sie kehrt aber innerhalb der Kultur selbst wieder, und ihr Element ist eben das, was die erste Wildnis bezwungen hat: die Macht selbst.
– Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund 1950, S. 95 f.
In dieser zweiten Wildnis haben sich alle Abgründe der Urzeit wieder geöffnet. Alles wuchernde und erwürgende Wachstum der Wälder dringt wieder vor. Alle Ungeheuer der Einöden, alle Schrecken der Finsternis sind wieder da. Der Mensch steht wieder vor dem Chaos; und das ist um so furchtbarer, als die meisten es gar nicht sehen, weil überall wissenschaftlich gebildete Leute reden, Maschinen laufen und Behörden funktionieren.
Das bedeutet, daß die Möglichkeit, der Mensch werde die Macht falsch gebrauchen, beständig wächst. Da es ein wirkliches und wirksames Ethos des Machtgebrauchs noch nicht gibt, wird die Neigung immer größer, diesen Gebrauch als einen Naturvorgang anzusehen, für welchen keine Freiheitsnormen, sondern nur angebliche Notwendigkeiten des Nutzens und der Sicherheit bestehen. […] Ja, das bedeutet, daß die Macht sich dämonisiert. […] Von der Macht des Menschen, die nicht durch sein Gewissen verantwortet wird, ergreifen die Dämonen Besitz.
– Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund 1950, S. 87 f.
In einem Gespräch über die Frage, was die ethische Erziehung des heutigen jungen Menschen als unmittelbar vorhanden voraussetzen könne, ergab sich eine einzige Antwort: die Kameradschaft. Die könnte als der formale Rest verstanden werden, der übrig bleibt, wenn alle inhaltlichen Werte zerfallen sind; sie kann aber auch, und soll, glaube ich, verstanden werden als Anzeichen von Werdendem. Es ist Kameradschaft im Dasein: im kommenden Menschheitswerk und in der kommenden Menschheitsgefahr. Wird diese Kameradschaft aus der Person heraus begriffen, dann ist sie das große menschliche Positivum der Masse. Vor ihr aus können- immer unter den veränderten Bedingungen, welche diese Masse schafft – die menschlichen Werte der Güte, des Verstehens, der Gerechtigkeit wiedergewonnen werden.
– Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund 1950, S. 72 f.
Über das (germanische) Mittelalter:
Unter unserem Gesichtspunkt scheint für letzteres besonders die innere Dynamik, der Trieb ins Unbegrenzte charakteristisch, wie er sich religiös im Charakter der nordischen Mythologie und geschichtlich in der Rastlosigkeit der germanischen Wanderungen und Heerzüge ausdrückt. Dieser Trieb kommt auch innerhalb des christlichen Glaubens zur Geltung, und es vollzieht sich die gewaltige mittelalterliche Bewegung über die Welt hinaus.
Sie ist nicht aus dem christlichen Gottesverhältnis allein zu erklären, denn die ersten Jahrhunderte kennen sie noch nicht. In ihnen wirkt die antike Selbstbescheidung nach und macht, daß die Erfahrung der überweltlichen Wirklichkeit Gottes sich mehr in der Form einer inneren Freiheit und einer Verantwortung für das Dasein zum Ausdruck bringt. Erst nachdem im Laufe der Völkerwanderung und der darauffolgenden Jahrhunderte das germanische Ferment den europäischen Raum durchsetzt hat, wird die neue Haltung frei. Sie steigt über die Welt hinaus zu Gott empor, um sich von Ihm her zur Welt zurückzuwenden und sie zu formen. Hinzu kommt der ebenfalls germanische Drang zum Allumfassenden und Ganzen; der Wille, die Welt zu umspannen und zu durchdringen. So versteht man, wie die Konstruktion des Mittelalters, das System seiner kosmischen und existentiellen Ordnungen entstehen konnte.
– Guardini, Das Ende der Neuzeit, Werkbund 1950, S. 20