Der Nikodemus gehört in das seltene Genre biblischer Fiktion. Schaper legt dem Pharisäer einige tiefe, bewegende Gedanken in den Mund, die hier anklingen sollen:
Nikodemus [ratlos vor sich hinsprechend] : »Gott soll bei uns sein? – Das ist das Unbegreifliche, dem ich immerzu nachsinnen muß: ich habe Antwort haben wollen, und nun, da sie mir und Euch und uns allen gegeben worden ist … jetzt habe ich nur Ohren, die sie gehört haben, und kein Herz, das Antwort gibt. Denn wenn das wahr sein sollte, wenn das geschehen wäre, Joseph, Joseph ! Wenn Gott bei uns ist und jeder Knecht ihn schlagen und anspucken und verhöhnen darf, wie wir es gesehen haben, dann … dann glaube ich nicht mehr, nichts mehr, nicht mehr an mich selbst, dann ist das alles nur ein wüster Traum, dann hat der Allerhöchste seine Schöpfung verlassen … «
– Edzard Schaper: Um die neunte Stunde oder Nikodemus und Simon, 68
Nikodemus weicht zurück vor der Folgerung. Seine Worte klingen lehrhaft und hohl: »Aber darf Gott uns richten, wenn seine Gnade uns nicht erreicht ? Wenn unsre Augen dunkel bleiben, zu klein sind für ihn? – Er selber hat uns so geschaffen.« Joseph: »Aber deshalb wohl meinte er, wir müßten von neuem geboren werden.«
– Edzard Schaper: Um die neunte Stunde oder Nikodemus und Simon, 43