Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Fischer 2021

Dostojewskijs Roman ist ein Universum der menschlichen Kontraste, in dem Atheismus und Heiligkeit, Liebe und Hass, Tugend und Verworrenheit gerade nebeneinander stehen. Dabei ist der ganze Roman ist eine große „christliche Apologetik“ (Sergej Pauli).

Hier hat Dostojewskij seine berühmte Erzählung vom Großinquisitor eingebaut. Eine wichtige Rolle trägt der alte Starez in dem Kloster, in das Alexej Karamasow eintreten soll, als Kontrastmittel im Irsinn der Welt.

Der Teufel taucht natürlich auch auf (Buch 11, Kap. 9):

Iwan Fjodorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und begann mit dem feuchten Handtuch auf dem Kopf im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Es gefällt mir, daß wir uns beide so ohne weiteres gleich duzen«, hob der Gast an.

»Dummkopf!« versetzte Iwan lachend! »Wie werde ich denn Sie zu dir sagen! Ich bin jetzt vergnügt, nur in den Schläfen fühle ich einen Schmerz … Und am Scheitel … Bitte, philosophiere bloß nicht wie das vorige Mal! Wenn du dich nicht fortscheren kannst, plaudere über etwas Lustiges! Erzähl Klatschgeschichten! Du bist ein Schmarotzer, also erzähle auch Klatschgeschichten! So ein Aufdringling ist doch nicht loszuwerden! Aber ich fürchte mich nicht vor dir. Ich werde deiner Herr werden. Man wird mich nicht ins Irrenhaus bringen!«

»C’est charmant: ein Schmarotzer! Da bin ich ja gerade in meiner richtigen Gestalt! Was bin ich denn auf der Erde anderes als ein Schmarotzer? Apropos, ich höre dich an und wundere mich ein bißchen. Wahrhaftig, du fängst offenbar allmählich an, mich tatsächlich für ein wirkliches Wesen zu halten und nicht nur für ein Gebilde deiner Phantasie, wozu du mich das vorige Mal hartnäckig erklärt hast.«

»In keinem Augenblick halte ich dich für die reale Wahrheit!« rief Iwan zornig! »Du bist eine Lüge, du bist meine Krankheit, du bist ein Gespenst. Ich weiß nur nicht, wodurch ich dich vernichten könnte, und sehe, daß ich dich eine Weile werde dulden müssen. Du bist meine Halluzination. Du bist eine Verkörperung meines Ichs, doch nur einer Seite desselben … Eine Verkörperung meiner Gedanken und Gefühle, aber der bösesten und dümmsten. In dieser Hinsicht könntest du sogar interessant für mich sein, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben …«

»Erlaube, daß ich dich widerlege! Denk einmal an vorhin unter der Laterne, als du Aljoscha angeschrien hast: ›Du hast es von ihm erfahren! Woher hast du erfahren, daß er zu mir kommt?‹ Damit hast du mich gemeint. Also ein kleines, ganz kleines Augenblickchen hast du doch geglaubt, daß ich tatsächlich existiere«, sagte der Gentleman mit einem sanften Lachen.

»Ja, das war eine physische Schwäche … Doch ich konnte nicht an dich glauben. Ich weiß nicht, habe ich das vorige Mal geschlafen oder bin ich umhergelaufen? Ich habe dich damals vielleicht nur im Traum gesehen und gar nicht in wachem Zustand …«

»Aber warum warst du vorhin so heftig zu ihm, ich meine, zu Aljoscha? Er ist ein liebenswürdiger Mensch!«

»Schweig von Aljoscha! Wie kannst du es wagen, du Knechtsseele!« erwiderte Iwan, lachte jedoch bereits wieder.

»Du schimpfst, lachst aber dabei, das ist ein gutes Zeichen. Du bist übrigens heute viel liebenswürdiger zu mir als das vorige Mal. Und ich verstehe warum: dieser große Entschluß …«

»Schweig von dem Entschluß!« schrie Iwan wütend.

»Ich verstehe, ich verstehe, c’est noble, c’est charmant! Du gehst morgen hin, um deinen Bruder zu verteidigen und dich selbst zu opfern … c’est chevaleresque ..,«

»Schweig, sonst werd‘ ich dir Fußtritte versetzen!«

»Darüber werde ich mich zum Teil freuen, dann habe ich meine Absicht nämlich erreicht. Wenn du mir Fußtritte versetzt, glaubst du an meine Realität, denn einer Vision versetzt man keine Fußtritte. Scherz beiseite – mir ist es ja egal: schimpf, wenn du Lust dazu hast! Aber besser wäre es doch, wenn du ein bißchen höflicher wärst, selbst mir gegenüber. ›Dummkopf, Knechtsseele‹ – na, was sind das für Ausdrücke!«

»Wenn ich dich beschimpfe, beschimpfe ich mich selbst!« antwortete Iwan wieder lachend! »Du bist ich, ich selber, nur mit einer anderen Visage. Du sagst genau das, was auch ich schon denke, und bist nicht imstande, mir etwas Neues zu sagen!«

»Wenn ich mit dir in den Gedanken übereinstimme, macht mir das nur Ehre«, entgegnete der Besucher; dieses Kompliment brachte er in würdiger Form heraus.

»Aber du wählst immer meine häßlichen und vor allem meine dummen Gedanken. Du bist dumm und gemein. Du bist furchtbar dumm. Nein, ich kann dich nicht ertragen! Was soll ich machen, was soll ich machen!« rief Iwan zähneknirschend.

»Mein Freund, ich möchte trotzdem ein Gentleman sein und als solcher behandelt werden«, begann der Gast in einem Anfall von schmarotzerhaftem und von vornherein zur Nachgiebigkeit bereitem gutmütigem Ehrgefühl! »Ich bin arm, aber … Ich will nicht sagen, daß ich sehr ehrenhaft wäre, doch gilt es in der Gesellschaft gewöhnlich als feststehend, daß ich ein gefallener Engel bin. Weiß Gott, ich kann mir nicht vorstellen, wie ich jemals ein Engel sein konnte. Wenn ich es aber wirklich einmal gewesen sein konnte, so ist das schon so lange her, daß es keine Sünde ist, das vergessen zu haben. Jetzt lege ich nur Wert auf den Ruf eines anständigen Menschen und lebe, wie es sich gerade trifft, indem ich mich bemühe, den Leuten angenehm zu sein. Ich liebe die Menschen aufrichtig – oh, man hat mich in vieler Hinsicht verleumdet! Wenn ich zeitweilig zu euch übersiedle, dann fließt hier mein Leben wie etwas Wirkliches dahin, und das gefällt mir am allermeisten. Auch ich selbst leide ja, ebenso wie du, an einer Vorliebe für das Phantastische, und darum liebe ich euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles klar abgegrenzt, hier gibt es Formeln und eine Mathematik, während bei uns alles Ähnlichkeit mit unbestimmten Gleichungen hat! Ich gehe hier umher und überlasse mich meinen Träumereien. Ich liebe es, mich meinen Träumereien zu überlassen. Außerdem werde ich auf der Erde abergläubisch – bitte, lach nicht: daß ich abergläubisch werde, gefällt mir ja gerade. Ich nehme hier alle eure Gewohnheiten an. Ich habe Geschmack daran gefunden, in die öffentliche Badestube zu gehen und mich in Gesellschaft von Kaufleuten und Popen mit heißem Dampf abzubrühen. Mein Traum ist, mich zu verkörpern in einer siebenpudschweren Kaufmannsfrau, aber endgültig, unwiderruflich, und alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist, in die Kirche zu gehen und eine Kerze aufzustellen, reinen Herzens, wahrhaftig. Dann würden meine Leiden ein Ende haben. Auch habe ich bei euch Geschmack daran gefunden, allerlei Kuren auf mich zu nehmen. Im Frühling kamen die Pocken; ich ging hin und ließ mich im Armenhaus impfen – wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tag war: Ich spendete zehn Rubel für die slawischen Brüder! Aber du hörst ja gar nicht zu! Weißt du, du bist heute wohl nicht recht bei Laune?« Der Gentleman schwieg ein Weilchen! »Ich weiß, du bist gestern zu diesem Arzt gegangen … Nun, wie steht es mit deiner Gesundheit? Was hat dir der Arzt gesagt?«

»Dummkopf!« erwiderte Iwan schroff.

»Dafür bist du um so klüger. Du schimpfst schon wieder? Ich frage ja nicht aus Teilnahme, sondern bloß so. Meinetwegen, antworte nicht! Jetzt gibt es wieder viel Rheumatismus …«

»Dummkopf!« sagte Iwan noch einmal.

»Das ist wohl dein Lieblingswort? Ja, ich hatte im vorigen Jahr so einen Rheumatismus aufgefangen, daß ich noch heute daran denke.«

»Der Teufel hat Rheumatismus?«

»Warum denn nicht, wenn ich mich doch manchmal in jemand verkörpere. Wenn ich mich verkörpere, dann nehme ich auch die Folgen auf mich. Der Satan sum et nihil humanum a ine alienum puto.«

»Wie war das, wie? Der Satan sum et nihil humanum – das ist nicht dumm für den Teufel!«

»Freut mich, daß ich endlich einmal deinen Geschmack getroffen habe.«

»Aber das hast du ja nicht von mir übernommen«, sagte Iwan und blieb plötzlich wie überrascht stehen! »Das ist mir nie in den Kopf gekommen: Sonderbar …«

»C’est du nouveau, n’est-ce pas? Diesmal will ich ehrlich verfahren und es dir erklären. Paß auf. Im Schlaf – und besonders bei Alpdrücken, zum Beispiel infolge einer Magenverstimmung oder aus sonst einem Grund – träumt der Mensch manchmal so kunstvolle Dinge, so eine komplizierte, reale Wirklichkeit, Ereignisse oder sogar eine listig zusammengeknüpfte Welt von Ereignissen, mit unerwarteten Details, angefangen von euren höchsten Offenbarungen bis hinab zum letzten Knopf am Vorhemd, daß selbst ein Leo Tolstoi es nicht so genau schildern könnte und dabei träumen das manchmal Leute, die gar nicht mit großer Phantasie begabt, sondern ganz gewöhnliche Leute sind, Beamte, Feuilletonschreiber, Popen … Manches ist geradezu ein Rätsel. So hat mir sogar ein Minister gestanden, daß ihm seine besten Ideen immer im Schlaf kommen. Na, und so ist es auch jetzt. Ich bin zwar nur deine Halluzination, aber ich rede, wie das auch im Traum der Fall ist, originelle Dinge, die dir bisher nicht in den Kopf gekommen sind, so daß ich nicht mehr bloß deine Gedanken wiederhole. Und dabei bin ich doch nur dein Traumgebilde, weiter nichts.«

»Du lügst. Deine Absicht ist gerade, mir einzureden, daß du ein selbständiges Wesen bist und nicht mein Traumgebilde – und da behauptest du jetzt selber, du wärst das letztere.«

»Mein Freund, heute habe ich eine besondere Methode angewandt, ich werde dir das nachher erläutern … Warte mal, wo war ich stehengeblieben? Ja, wie ich mich damals erkältet hatte, aber nicht bei euch, sondern noch dort …«

– Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. Buch 11, Kapitel 9