Gehört der Kleine Prinz in die Kategorie Christliche Literatur? Das Wort „Gott“ kommt nicht darin vor. Dennoch: vermutlich ist das Buch dennoch christlich, nicht nur weil der Autor ein frommer Katholik war.
Der kleine Junge ist ein irgendwie an Christus angelehnter Weisheitslehrer und ein „neutestamentlicher Geist“ schwebt über dem Werk (Michelsen). Es ist unendlich viel weiser, als man nach Millionen passender und unpassender Zitate zu passenden und unpassenden Gelegenheiten glauben mag. Seine Geschichten sind Gleichnisse unserer Gegenwart. Voll Weisheit steckt das Buch, voll christlich-humanistischer und voll schlichter Alltagsklugheit, wie das folgende Zitat beweist:
«Was machst du hier?», sprach er zu dem Säufer, den er stumm sitzend vor einer Reihe leerer und einer Reihe voller Flaschen vorfand.
Der kleine Prinz, 12. Kapitel
«Ich trinke», antwortete der Säufer mit düsterer Miene.
«Und warum trinkst du?», fragte der kleine Prinz.
«Um zu vergessen», antwortete der Säufer.
«Was willst du vergessen?», fragte der kleine Prinz, der ihm schon leid tat.
«Ich will vergessen, dass ich mich schäme», gestand der Säufer und ließ den Kopf hängen.
«Über was schämst du dich?», fragte der kleine Prinz beharrlich weiter, denn er wollte ihm helfen.
«Ich schäme mich, weil ich saufe!», sagte der Säufer abschließend und hüllte sich in tiefes Schweigen.
Langsam zog ich den Eimer bis zum Brunnenrand. Ich stellte ihn gerade auf. In
25. Kapitel
meinen Ohren sang noch das Lied der Seilwinde und im sich kräuselnden Wasser sah ich die Sonne zittern.
«Ich habe Durst nach diesem Wasser», sagte der kleine Prinz, «gib mir zu trinken …»
Und ich verstand, was er gesucht hatte.
Ich hob den Eimer an seine Lippen. Er trank mit geschlossenen Augen. Es war wie ein Fest. Dieses Wasser war viel mehr als ein Getränk. Es war entsprungen aus dem Fußmarsch unter den Sternen, dem Gesang der Winde, geboren aus meiner Hände Arbeit. Es war gut für das Herz, wie ein Geschenk. Als ich noch ein Junge war, machten die Lichter des Christbaumes, die Musik der Mitternachtsmesse, die Sanftmut des Lächelns den eigentlichen Glanz der Weihnachtsgeschenke aus, die ich bekam.
«Die Leute bei dir», sagte der kleine Prinz, «züchten fünftausend Rosen in einem Garten … und dennoch finden sie nicht, was sie suchen …»
«Sie finden es nicht», antwortete ich …
«Und doch könnten sie es in einer einzigen Rose oder in einem einzigen Schluck Wasser entdecken …»
«So ist es», antwortete ich.
Und der kleine Prinz fügte hinzu: «Aber die Augen sind blind. Man muss mit dem Herzen suchen.»
Ich hatte getrunken. Ich schöpfte wieder Atem. Der Sand hat bei Tagesanbruch die Farbe von Honig. Ich war auch über diese Honigfarbe glücklich. Worüber sollte ich mir Sorgen machen …