Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Die vollständige Ausgabe. Herder 2000

… und das Gebet wirkte mächtig.

Es wirkt mächtig und verwandelt den fröhlichen russischen Pilger, der mit Leichtigkeit, fast mit Kopflosigkeit das Gebet sucht und findet – nicht irgendein Gebet, sondern das von Jesus geforderte: betet ohne Unterlass. Das alte Büchlein ist ein langer Kommentar zum Schriftwort.

In der russischen Mystik liegt etwas Hingegeben-Mutwilliges. Man meint stellenweise, den heiligen Seraphim von Sarow wiederzufinden, Russlands überwältigenden Mystiker.

Den vollständigen Text des Russischen Pilgers gibt es online hier.

Wir betraten die Klause, und der Starez sagte folgendes: „Das unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten: Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!

– Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herder 2014, S. 30

So ziehe ich nun meiner Wege und verrichte unablässig das Jesusgebet, das mir wertvoller und süßer ist als alles andere in der Welt. Mitunter gehe ich meine siebzig Werst am Tage, manchmal auch mehr, und fühle gar nicht, daß ich gehe; ich fühle aber nur, daß ich das Gebet verrichte. Fährt mir eisige Kälte durch die Glieder, so beginne ich das Gebet angespannter herzusagen und bin bald vollkommen erwärmt. Martert mich der Hunger, so rufe ich den Namen Jesu Christi häufiger an und vergesse, daß ich essen wollte. Bin ich krank oder fühle ich ein Reißen im Rücken und in den Beinen, so beginne ich auf das Gebet hinzuhorchen und spüre den Schmerz nicht mehr. Wenn mich jemand beleidigt, so denke ich nur daran, wie süß das Jesusgebet ist; sogleich ist die Kränkung und aller Zorn geschwunden, und ich habe alles vergessen. Ich bin gleichsam närrisch geworden; um nichts sorge ich mich mehr; nichts gibt es, das mich fesselt; nichts Eitles schaue ich an; wenn ich nur immer allein bin in der Einsamkeit! Der Gewohnheit getreu, drängt es mich nur zu dem einen: unablässig das Gebet zu verrichten, und immer, wenn ich mich damit abgebe, werde ich sehr froh. Gott weiß, was mit mir vorgeht.

– Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herder 2014, S. 38

So machte ich mich denn vorerst daran, die Stelle des Herzens aufzufinden, wie Symeon, der Neue Theologe, dies lehrt. Ich schloß die Augen, blickte mit dem Geist, das heißt mit der Einbildung, ins Herz und wünschte mir, es mir vorzustellen, wie es da in der linken Brust eingebettet liegt, und horchte aufmerksam auf sein Schlagen. Hiermit befaßte ich mich erst je eine halbe Stunde etliche Male im Verlauf des Tages; anfangs merkte ich nichts als Dunkelheit; alsdann stellte sich mir das Herz sehr bald dar und desgleichen die Bewegungen, die darin vorgingen; des weiteren begann ich, das Jesusgebet zusammen mit dem Atem ins Herz ein- und wieder herauszuführen, so wie es der heilige Gregor der Sinaite, auch Kallistos und lgnatios lehren, das heißt, geistig ins Herz blickend und die Luft einziehend, stellte ich mir vor und sprach: Herr Jesus Christus- und dann die Luft wieder herausstoßend: erbarme dich meiner. […] Mitunter fühlte ich flammende Liebe zu Jesus Christus und zu der ganzen Schöpfung Gottes. Mitunter entströmten meinen Augen ganz von selbst süße Tränen des Dankes an Gott, der mir verruchtem Sünder solche Gnade widerfahren ließ. Mitunter lichtete sich mein sonst so törichtes Verstehen, so daß ich mit Leichtigkeit Dinge erfaßte und überlegte, an die ich früher nie hätte denken können. Mitunter überströmte die süße Herzenswärme mich ganz und gar, und voller Rührung verspürte ich in mir die Allgegenwart Gottes. Mitunter empfand ich die allergrößte Freude beim Anrufen des Namen Jesu Christi und erkannte, was das Wort bedeutet, welches er gesagt hat: „Das Reich Gottes ist in euch“ (Lk 17,21).

– Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herder 2014, S.58

Ich holte meine ‚Tugendliebe‘, schlug dort im dritten Teil auf Seite achtundvierzig die Unterweisungen des Petrus Damascenus auf und begann folgendes zu lesen: ,Man muß es lernen, mehr den Namen Gottes anzurufen, als zu atmen, zu jeder Zeit, allerorten und bei jeglicher Verrichtung. Der Apostel sagt: Betet ohne Unterlaß, das heißt, er lehrt, man solle zu jeder Zeit, allerorten und bei jeder Verrichtung Gottes gedenken. Wenn du etwas tust, sollst du den Schöpfer aller Dinge in der Erinnerung haben; wenn du das Licht siehst, so erinnere dich dessen, der es dir geschenkt hat; siehst du den Himmel, die Erde, das Meer und alles, was darinnen ist, so staune und preise ihn, der das geschaffen hat; wenn du dir deine Kleider anziehst, so denke daran, wessen Gabe sie sind, und danke ihm, der für dein Leben sorgt. Kurz gesagt, eine jegliche Bewegung soll dir Anlaß geben, Gottes zu gedenken und ihn zu preisen.

– Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herder 2014, S. 98