Stefan Heym: Ahasver. Penguin 2018

(c) Penguin

Erster Schauplatz: das Deutschland des Reformatorenschülers Paul von Eitzen. Auf der Suche nach dem Ewigen Juden gerät er in die Fänge des kuriosen, faszinierenden und zugleich beunruhigenden Herrn Leuchtentrager (Luzifer, natürlich), der ihn lehrt, inspiriert und verführt.

Zweiter Schauplatz: die Himmelssphäre. Besagter Luzifer, zusammen mit Ahasverus, fällt aus dem Himmel – erster Sündenfall. Der eine wird auf ewig die Menschen verführen, der andere als ewiger Wanderer und ewiger Jude die Esoterik bevölkern.

Dritter Schauplatz: Das Deutschland der Demokratischen Republik, vertreten durch das „Institut des wissenschaftlichen Atheismus“, das sich der Legende des Wandernden Juden annimmt -, um sie zu widerlegen, natürlich, – und darüber in einen Schriftwechsel mit einem Herrn Prof. Leuchtentrager gerät (wen wundert’s). Ein grandioses Zeugnis von Literatur als Briefwechsel, wie in Bram Stokers: Dracula, und noch dazu in wunderbar verschrobenem Ost-Beamten-Deutsch.

Heym ist zunächst ein Sprachkünstler. Jede Seite ist ein Genuss. Außerdem ist er ein Querulant: er hat in den Vereinigten Staaten gegen Amerika gestänkert, sich in der BRD gegen die westdeutsche Politik gestemmt und in der DDR dissidiert bis zum Veröffentlichungsverbot. Nicht weiter bemerkenswert, dass auch sein Verhältnis zur Religion ein Widerborstiges ist, auch in unserem Roman hier.

Ahasver steht in einer Reihe mit den großen Teufelsromanen:

Unter dem Wust von Heyms Sprachgenie, von teuflischen Einflüsterungen und allzumenschlichen Versuchungen findet sich freilich kaum ein christlicher Roman. Dennoch darf Ahasver auf ad-fontes.org stehen, denn die komplette Inspiration ist jüdisch-christlich, wenn sich auch der Autor daran abarbeitet (wie im König-David-Roman The King David Report). Auch die armen Reformatoren bekommen viel Fett weg.

Fröhliche Lektüre!
Hier ein kleiner Blick in den ostdeutschen Briefwechsel:

Sehr verehrter, lieber Herr Kollege! Sie haben mir mit Ihrem Schreiben vom 12. ds. eine höchst angenehme Überraschung bereitet. Ich hatte gar nicht erwartet, daß meine wenigen Bemerkungen bei Ihnen auf ein derartiges Interesse stoßen würden, und es erfüllt mich verständlicherweise mit Befriedigung, von Ihnen zu erfahren, daß Sie Ihr ganzes Kollektiv in Sachen Ahasver bemüht haben. Leider müssen wir hier auf unserem Gebiet mit, zahlenmäßig gesehen, geringeren Kräften auskommen. Dennoch habe ich mich beeilt, Ihren Vorschlägen zu entsprechen, soweit diese sich sofort realisieren ließen. Sie finden also beiliegend drei Photographien. Die eine zeigt Herrn Ahasver vor seinem Schuhgeschäft an der Via Dolorosa; die andern beiden sind in der bekannten Manier einmal en face, das rechte Ohr sichtbar, und einmal im Profil; diese Bilder stammen, um das gleich zu sagen, nicht aus einer Polizeikartei, sie wurden jedoch, um Ihren Ansprüchen zu genügen, von einem Polizeiphotographen aufgenommen. Bei näherer Betrachtung lassen sie erkennen, daß der Abgebildete zweifellos ein Mann von Charakter ist, intelligent, und beachten Sie Mund und Augen! – Sinn für Humor besitzt; ich darf noch bemerken, daß Frauen großes Interesse für ihn zeigen, um so mehr, als er Junggeselle ist. Weiter, und wiederum Ihrer Anregung folgend, verehrter Herr Kollege, habe ich eine gerichtsmedizinische Untersuchung des Herrn Ahasver veranlaßt. Diese wurde von Professor Chaskel Meyerowicz, dem Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts der Hebrew University durchgeführt; die Befunde liegen bei und besagen, daß der Untersuchte die Konstitution eines Mannes von etwa vierzig Jahren besitzt und weder größere körperliche Schäden hat noch an chronischen Krankheiten leidet. Bei der Blutuntersuchung allerdings ergaben sich Resultate, die Professor Meyerowicz veranlaßten, Dr. Chaim Bimsstein vom radiologischen Institut der Universität hinzuzuziehen. Dieser konnte bestätigen, daß sich im Blut des Untersuchten tatsächlich Spurenelemente von radioaktiven Stoffen mit einer halben Zerfallszeit von mindestens zweitausend Jahren fanden, was darauf hinweist, daß Herr Ahasver noch älter sein muß als bisher angenommen und nicht erst zu Zeiten des Jesus von Nazareth zur Welt gekommen ist. Ein von beiden Herren unterzeichnetes Gutachten ist den anderen Befunden beigeheftet.

Ahasver, Bertelsmann 1992, S. 44-45