Joseph Ratzinger: Über allem: Die Liebe. Kösel 1965

„Christ ist, wer die Liebe hat.“ Mit diesem Gedanken beginnt und schließt die in Buchform veröffentlichte Predigt Joseph Ratzingers, die er im Advent 1964 in Münster vor der Katholischen Studentengemeinde gehalten hat. Dazwischen entfaltet er auf wenigen Seiten eine Darlegung zum Wesen des Christentums, so einfach und zugänglich, wie zugleich tiefsinnig und unerschöpflich, eben so wie man den großen Theologen kennt und liebt. Nach der Lektüre der kurzen Schrift ist man innerlich bereichert. Von einem (nur auf den ersten Blick) simplen Ausgangspunkt aus entwickelt Ratzinger in dieser Predigt den tiefen Zusammenhang von Liebe, Glaube und Hoffnung.

Ein kurzer Auszug:

„Der Christ ist der Mensch, der nicht rechnet, sondern das Überflüssige tut. Er ist eben der Liebende, der nicht fragt: Wie weit kann ich gerade noch gehen, dass ich noch eben im Bereich der lässlichen Sünde, unter der Grenze der Todsünde bleibe? Sondern Christ ist derjenige, der einfach das Gute sucht, ohne Berechnung. Der bloß Gerechte, derjenige, dem es um Korrektheit zu tun ist, ist der Pharisäer; erst der, der nicht bloß gerecht ist, fängt an, Christ zu sein. Das bedeutet beileibe nicht, dass der Christ ein Mensch wäre, der nichts verkehrt macht und keine Fehler hat. Im Gegenteil: Er ist der, der weiß, dass er Fehler hat, und der großzügig ist mit Gott und den Menschen, weil er weiß, wie sehr er selbst von der Großzügigkeit Gottes und seiner Mitmenschen lebt. […]

Wenn man genauer zusieht, wird man alsbald feststellen, dass die Grundstruktur, die wir mit dem Gedanken des Überflusses aufgedeckt haben, die ganze Geschichte Gottes mit dem Menschen prägt, ja, dass sie darüber hinaus gleichsam das göttliche Prägezeichen auch schon der Schöpfung ist: Das Wunder von Kana, das Wunder der Brotvermehrung sind Zeichen für den Überfluss der Großzügigkeit, der Gottes Handeln wesentlich ist, jenem Handeln, das im Schöpfungsgeschehen Millionen Keime verschwendet, um ein Lebendiges zu retten. Jenem Handeln, das ein ganzes Weltall verschwendet, um auf der Erde einen Platz zu bereiten für dies geheimnisvolle Wesen Mensch.“ (Ratzinger 1965: S. 39-43).