Paul Tillich ist eine der großen Gestalten der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts. Sein Werk Mut zum Sein (1952) gehört zu den zentralen Schriften, die seine existenzielle Theologie prägen und weit über den rein theologischen Diskurs hinaus ihre Wirkung entfaltet haben. Dabei ist Tillichs Werk kein einfaches Stück Theologie, sondern zum Teil wirklich komplex und verschachtelt – nichts, was man einfach so in der U-Bahn wegliest. Denkt man sich einmal in seine Sprache und Begriffe ein, lohnt es sich jedoch sehr. Tillichs Ansatz, philosophische und psychologische Fragestellungen mit theologischen Antworten zu verbinden, hat vielen Menschen geholfen, sich mit den tiefen Ängsten und Unsicherheiten des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen. Doch wie verhält sich sein Werk aus katholischer Sicht? Wo gibt es Gemeinsamkeiten, und wo verlaufen die Unterschiede?
„Der Mut, die Angst vor der Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen, ist die Grenze, bis zu der der Mut zum Sein gehen kann. Jenseits dieser Grenze ist bloßes Nichtssein. In diesem Mut werden alle Formen des Mutes wiedergeboren aus der Macht Gottes über dem Gott des Theismus. Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist.“
Paul Tillich, Der Mut zum Sein. 2.Auflage, De Gryter 2015, S. 128 f.
Warum geht es?
Mut zum Sein beschäftigt sich mit einer der grundlegendsten Erfahrungen des menschlichen Lebens: der Angst vor dem Nichtsein, der Angst vor dem Tod und der Sinnlosigkeit. Tillich spricht von der „Angst des Daseins“, einer existenziellen Angst, die alle Menschen betrifft. Die zentrale Frage des Buches lautet: Wie können wir den Mut aufbringen, in einer Welt voller Unsicherheit und Leiden zu bestehen?
Tillich unterscheidet dabei drei Formen der Angst: die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Schuld und die Angst vor der Sinnlosigkeit. Jede dieser Ängste wurzelt tief im menschlichen Dasein, doch Tillich betont, dass der „Mut zum Sein“ nicht durch die Leugnung dieser Ängste entsteht, sondern durch ihre Anerkennung und Überwindung. Dies geschieht, so Tillich, durch den Glauben an das „Sein selbst“ – eine tiefe und existentielle Verbundenheit mit Gott, den Tillich als das „Sein über allem Sein“ versteht.
Aus katholischer Perspektive ist diese Betonung der existenziellen Angst und des Mutes sicherlich nachvollziehbar, da auch die katholische Theologie die Themen Tod, Schuld und Sinn aufgreift. Allerdings liegt ein deutlicher Unterschied in der Interpretation der Lösung: Während Tillich auf das „Sein selbst“ als letztgültige Quelle des Mutes verweist, betont die katholische Tradition die konkrete Beziehung zu einem personalen Gott, der sich in Jesus Christus offenbart. Tillichs Vorstellung von Gott als „Grund des Seins“ mag philosophisch ansprechend sein, wirkt jedoch aus katholischer Sicht abstrakt und entfernt von der persönlichen Nähe, die die katholische Spiritualität durch Sakramente, Gebet und die Gemeinschaft der Gläubigen betont.
Wirkung und Einfluss
Tillichs Mut zum Sein war und ist für viele eine Art philosophisch-theologischer Rettungsanker in einer Zeit, die von Kriegen, gesellschaftlichen Umbrüchen und dem Aufkommen des Nihilismus geprägt war. Sein Werk fand nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Philosophie und Psychologie weite Verbreitung, was zeigt, wie tief er in das kollektive Bewusstsein der westlichen Welt eingedrungen ist.
Ein weiterer Grund für die Popularität dieses Buches ist Tillichs Fähigkeit, komplexe theologische Konzepte in einer Weise zu formulieren, die auch für Menschen ohne theologischen Hintergrund zugänglich ist. Sein Fokus auf die Erfahrung des Einzelnen und die existenziellen Kämpfe, denen wir alle gegenüberstehen, gibt dem Werk eine gewisse Universalität.
Aus katholischer Sicht ist sein Werk jedoch nicht unkritisch zu betrachten. Insbesondere Tillichs „Glaube ohne die Forderung des Übernatürlichen“ und seine Annäherung an eine fast pantheistische Vorstellung von Gott widersprechen der katholischen Betonung der Transzendenz Gottes und der konkreten Heilsgeschichte. Während Tillich die Angst und den Glauben in existenzielle Kategorien einordnet, bleibt der persönliche Gott der Bibel im Hintergrund. Das katholische Verständnis von Gotteserfahrung ist hingegen stark auf das übernatürliche Wirken in der Geschichte und im persönlichen Leben des Einzelnen gerichtet.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Was Tillich und die katholische Theologie eint, ist die Ernsthaftigkeit, mit der beide den Menschen in seiner Not und seiner Suche nach Sinn und Trost betrachten. Auch die katholische Lehre erkennt, dass der Mensch in der Auseinandersetzung mit Tod und Schuld den Mut zum Leben finden muss. Doch hier kommen die Unterschiede klar zum Vorschein: Während Tillich einen abstrakteren, eher philosophischen Gott als „Seinsgrund“ in den Mittelpunkt stellt, legt die katholische Theologie den Schwerpunkt auf die personale Beziehung zu einem liebenden Gott, der in Christus Mensch geworden ist. Für Katholiken steht die Eucharistie als unmittelbare Erfahrung dieser Gegenwart Gottes im Zentrum, während Tillich eher auf eine spirituelle Haltung des Vertrauens in das Sein selbst abzielt.
Tillichs Ansatz bietet eine wertvolle Perspektive auf die Frage der existenziellen Angst, und seine Betonung des Mutes ist auch aus katholischer Sicht bereichernd. Doch für katholische Gläubige bleibt das Herz des Glaubens die persönliche Beziehung zu einem Gott, der im Gebet, in den Sakramenten und in der Gemeinschaft der Kirche konkret und erfahrbar wird.
Kritik aus katholischer Sicht
Ein weiterer kritischer Punkt ist Tillichs Umgang mit dem Begriff des Glaubens. Tillich spricht von „Glauben als Mut“, der im Vertrauen auf das „Sein selbst“ wurzelt, ohne eine konkrete religiöse Erfahrung zu erfordern. Aus katholischer Sicht ist jedoch der Glaube viel mehr als bloß eine innere Haltung oder existenzielle Haltung: Er ist eine lebendige Beziehung zu einem personalen Gott, die durch die Offenbarung und die Gemeinschaft der Kirche genährt wird. Das Fehlen einer konkreten Christusbezogenheit in Tillichs Werk könnte daher von katholischen Lesern als unzureichend empfunden werden.
Paul Tillichs Mut zum Sein ist zweifellos ein bedeutendes Werk, das auch heute noch Relevanz besitzt – besonders in Zeiten, in denen viele Menschen mit existenziellen Fragen ringen. Sein Mut, den Themen Angst und Unsicherheit nicht auszuweichen, sondern ihnen direkt zu begegnen, ist bewundernswert und bietet eine wertvolle Perspektive auf die Herausforderungen des Lebens.
Aus katholischer Sicht bleibt jedoch die Frage nach der Konkretisierung Gottes im Zentrum: Während Tillich eine philosophische Lösung im „Sein selbst“ findet, ist für die katholische Theologie die Erfahrung der Nähe Gottes in der Geschichte und im persönlichen Leben wesentlich. Dennoch kann Tillichs Werk als ein Anstoß für den Glaubenden gesehen werden, sich den eigenen Ängsten zu stellen und im Glauben Mut zu finden – allerdings nicht nur im abstrakten Sein, sondern in der konkreten Liebe eines persönlichen und nahen Gottes.