Rudolf Linge: Das Leben ist reicher. St. Benno 1962

Der in Oslo lebende Oberstaatsanwalt Dr. Lars Hansen hat viel erreicht: Wohlstand, gesellschaftliches Ansehen, berufliche Erfolge und eine Jagdhütte an einem idyllischen Fjord für die Stunden der Erholung lassen keinen Grund zur Klage. Eigentlich. Doch dann gerät sein geruhsames Leben durch eine Begegnung ins Wanken, die ihn mit einer lang verdrängten Tat aus der Vergangenheit konfrontiert. Eine Verkettung von Ereignissen wird ausgelöst, an deren Ende ihn eine vergessen geglaubte Schuld auf brutale Weise einholt, woran er beinahe zerbricht. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen und so entdeckt Hansen schließlich am Abgrund seines Daseins, in den Tiefen des norwegischen Waldes, unvermutet und geradezu widerwillig, dass das Leben mehr zu bieten hat, und Erfüllung, Sinn und Gnade auf ihn warten, und zwar an Orten, an denen er dies nicht erwartet hätte. Wie in einer armen Fischerhütte am Sterbebett der Frau des Fischers:

„Im Bett liegt die Frau. Ihr Aussehen läßt ihn erschrecken. Bleich und abgezehrt liegt der Kopf auf dem Kissen. Ist so etwas möglich? Kann ein Mensch in wenigen Tagen so verfallen? Hansen zieht die Decke enger um seinen Körper. Trotz des überheizten Raumes fröstelt ihn. Der Fischer hat die Lampe vom Tisch genommen und ist zum Bett getreten. Voll liegt der Schein auf der Frau. Eben hebt und senkt sich die Brust unter ihren stoßweisen Atemzügen. Dann bricht das Röcheln unvermindert ab. Hansen sieht nur, wie die Decke über der Brust ruhig liegenbliebt. ‚Ist es vorbei?‘, denkt er. ‚Tot?‘ Bewegungslos verharren die beiden Männer. Doch dann setzt das Herz wieder ein. Langsam, fast unmerklich zuerst, bewegt sich noch einmal das Laken, bevor es eine Tote bergend umhüllt. Dann schlägt die Sterbende die Augen auf. Groß, unwirklich groß sind sie auf den Mann gerichtet, der in dieser Stunde einen Teil seines Lebens verliert. […] Die Frau bewegt fast unmerklich die Lippen. Der Mann kniet sich vor das Bett und neigt seinen Kopf den letzten Worten zu. Seine Linke hält die Lampe hoch über den Kopf, seine Rechte sucht beinahe schüchtern die wachsbleiche Hand auf der Decke. Hansens Blick wird von diesen Fingern angezogen, die sich langsam über die weiße Decke bewegen. Jetzt schieben sich die Fingerspitzen, diese harten, zerarbeiteten Fingerspitzen, über die knochige Hand und umschließen sie. Hansen ist vom Anblick dieser beiden Hände gefangen. Ein nie gekanntes Empfinden schreibt diese stumme Bewegungslosigkeit in sein Erkennen. Die Hand der Frau, nicht weniger abgearbeitet als die des Mannes, wird von dieser sanft umhüllt. So mochte das eine Leben in dem anderen geruht haben. Schutz zu geben war die Pflicht des einen, sich geborgen zu wissen das Recht des anderen Lebens. Und so waren sie ein Ganzes gewesen: Pflicht und Recht – Schutz und Geborgenheit! Wie reich doch diese Menschen waren! Rudolf Hübler fällt ihm ein – er denkt an sich selbst. Wie hatte er damals seinem Freund geschrieben? ‚Als sich unsere Wege trennten, verlor ich das Du‘ und ‚als Einzelgänger lebe ich meine Tage!‘ […] Wovon sprechen diese stummen Hände? Sind sie zu Richtern bestellt über sein Leben?“ (Linge 1962: 141+142)

Und langsam öffnet sich seine Seele für Gott:

„Ist die Seele nicht auch eine Melodie des ewigen Schöpfergottes? Schwingt diese Seele nicht im Rhythmus göttlicher Bestimmung und menschlicher Unvollkommenheit? Ist ihre Vollendung nicht dann erreicht, wenn dieser Rhythmus in Harmonie mit dem unendlichen Gott verklingt? Aber eine solche Harmonie erklingt erst dann, wenn alle Dissonanzen beseitigt sind. Das aber ist, wenn im Auf und Ab der Akkorde nicht dadurch die Melodie getrübt wird, daß die menschliche Unvollkommenheit den Grundakkord anzugeben sich vermißt, sondern Gott zum Grundakkord unseres Lebens wird.“ (Linge 1962: S. 164+165).

„Das Leben ist reicher“, der erste Roman des Eichstätter Schriftstellers Rudolf Linge (1921-1986), ist erstmals 1962 in der Buchreihe „Katholische Dichter unserer Zeit“ des St. Benno-Verlages erschienen. Auch wenn die Erzählung vielleicht nicht das Format großer Weltliteratur erreichen mag, so lohnt sich doch eine Wiederentdeckung, nicht zuletzt aufgrund der ehrenwerten Absicht des Verfassers:

„Denn man schreibt ja nicht um des Schreibens willen! Eine jede Gabe ist Aufgabe. Wenn man aber als Christ die Feder zur Hand nimmt, steht man vor der Aufgabe, die Welt und das Leben auch mit den Augen eines Christen zu sehen. Das aber heißt, die Welt und ihre Dinge transparent werden zu lassen, damit Gott in ihnen sichtbar wird. Denn das Heilige ist in der Welt! Es gilt nur, den Blick darauf zu lenken und es zu erkennen, besonders im Kleinen, Unscheinbaren unseres alltäglichen Lebens. Die Jahre menschlicher Bewährung brachten mir die Erkenntnis, daß mein Leben nur insoweit ein erfülltes Leben ist, als ich es für Gott verwendet habe.“ (Linge 1962: S. 178, im Nachwort von Herbert Gorski)