Johanna von Orleans bleibt ein faszinierendes Geheimnis. Sie ist die französische Heilige schlechthin: das Mädchen, von Gott ergriffen und durchwirkt, von den Stimmen seiner Heiligen geleitet, mit einer Mission betraut, die sie weit übersteigt. Das Kind soll den König zur Krone führen und das Land befreien.
Ihr Ende ist ein Martyrium. Von den Engländern gefangengenommen, wird sie verhört. Die Prozessakten bezeugen den Mut und die innere Freiheit, die der Geist ihr schenkt. Gleichwohl wird sie ihre Stimmen widerrufen, um ihr Leben zu schonen. Doch auf den Widerruf folgt ein Widerruf und sie wird, um der Wahrheit willen, den Scheiterhaufen in Kauf nehmen. Selbst der Katechismus zitiert Johanna.
Die Prozessakten bleiben eine Schatzkammer:
JOHANNA: Es waren die Stimmen der Heiligen Katharina und der Heiligen Margareta. Ihre Häupter waren gekrönt mit schönen, reichen und kostbaren Kronen. Gott hat mir erlaubt, das zu sagen. Wenn Ihr zweifelt, so sendet nach Poitiers, wo man mich früher verhört hat.
MAGISTER BEAUPÈRE: Wieso wißt Ihr, daß es diese beiden Heiligen sind? Könnt Ihr sie unterscheiden?
JOHANNA: Sicher weiß ich es! Gewiß kann ich sie unterscheiden!
MAGISTER BEAUPÈRE: Wie unterscheidet Ihr sie voneinander?
JOHANNA: Durch die Art, wie sie mich grüßen. Es sind fast sieben Jahre her, seit sie sich meiner angenommen und mich führen. Ich erkenne sie auch, weil sie sich mir nennen.
MAGISTER BEAUPÈRE: Sind Eure Heiligen gleich gekleidet?
JOHANNA: Hierüber sage ich Euch nichts weiteres. Es ist mir nicht erlaubt. Wenn Ihr mir nicht glaubt, geht nach Poitiers! Es sind Offenbarungen, die den König angehen. Nicht Euch!
MAGISTER BEAUPÈRE: Haben die Stimmen dasselbe Alter?
JOHANNA: Ich darf es nicht sagen.
MAGISTER BEAUPÈRE: Sprechen die beiden Heiligen auf einmal oder eine nach der anderen?
JOHANNA: Ich darf es nicht sagen. Ich habe meine Weisung immer von beiden.
MAGISTER BEAUPÈRE: Welche von beiden ist Euch zuerst erschienen?
JOHANNA: Ich habe sie nicht sogleich erkannt. Ich habe es wohl früher gewußt, aber ich habe es vergessen. Wenn ich die Erlaubnis hatte, werde ich es gesagt haben. Es ist in dem Buch von Poitiers niedergeschrieben. Und ich habe auch großen Trost vom Heiligen Michael empfangen.
MAGISTER BEAUPÈRE: Wer von den Heiligen ist Euch zuerst erschienen?
JOHANNA: Der Heilige Michael.Der Prozess (1978), 28
Eine der Angriffsrichtungen war ihre Männerkleidung. Ob sie die aus Hochmut trugt oder auf Befehl, hätte vielleicht ein Urteil rechtfertigen können.
DE LA FONTAINE: Hat Euch Robert de Baudricourt ersucht, Männerkleider anzulegen, oder war es Euer eigener Wille?
JOHANNA: Es war mein Wille. Kein Mensch hat es von mir verlangt.
DE LA FONTAINE: War es die Stimme, die Euch Männerkleider anzulegen gebot?
JOHANNA: Alles, was ich an Gutem getan habe, das habe ich auf Befehl der Stimmen getan. Was das Kleid angeht, so antworte ich Euch ein andermal. Im Augenblick habe ich keine Weisung darüber. Aber morgen werde ich darauf antworten.
DE LA FONTAINE: Empfandet Ihr es nicht als schlecht, die Mannskleider anzulegen?
JOHANNA: Nein. Und wäre ich jetzt noch in diesem Mannskleid auf der anderen Seite, und könnte ich darin fortführen, was ich vor meiner Gefangennahme begann, es wäre eine große Wohltat für Frankreich, will mir scheinen.Der Prozess (1978), 53
Und könnte man ihr vielleicht Häresie nachsagen? Loslösung vom Papst zugunsten ihrer Privatoffenbarungen?
DER RICHTER: Glaubt Ihr gehalten zu sein, dem Stellvertreter Gottes, dem Papst, die volle Wahrheit auf alle Fragen des Glaubens und des Gewissens zu sagen?
JOHANNA: Führt mich zu ihm, und ich will ihm alles sagen, was ich beantworten soll.
DER RICHTER: Und aus welchem Stoff war jener Ring gemacht, in dem geschrieben stand: Jesus-Maria?
JOHANNA: Das weiß ich nicht genau. Ob er aus Gold war? Aber nicht aus Feingold! Ich weiß nicht, ob er aus Gold oder aus Kupfer ist. Es waren, glaube ich, drei Kreuze darauf, aber kein anderes Zeichen, soviel ich weiß, außer: Jesus-Maria.
DER RICHTER: Warum habt Ihr den Ring besonders gern betrachtet, wenn Ihr ins Feld zogt?
JOHANNA: Aus Gefallen daran und im Gedenken an meinen Vater und meine Mutter. Und ich, ich habe mit diesem Ring am Finger die Heilige Katharina berührt, die mir erschien.
DER RICHTER: Wo habt Ihr sie berührt?
JOHANNA: Darüber erfahrt Ihr nichts Weiteres.
DER RICHTER: Habt Ihr die Heilige Katharina und die Heilige Margareta nie umschlungen?
JOHANNA: Ich habe sie beide umarmt.
DER RICHTER: Rochen sie gut?
JOHANNA: Ja, sicher rochen sie gut!
DER RICHTER: Habt Ihr bei der Umarmung keine Hitze oder anderes wahrgenommen?
JOHANNA: Ich konnte sie nicht umfassen, ohne sie zu riechen und sie zu berühren.
DER RICHTER: Wo habt Ihr sie umarmt, oben oder unten?
JOHANNA: Es ziemt sich, ihre Knie zu umfassen.
DER RICHTER: Habt Ihr ihnen keine Blumengewinde dargebracht?
JOHANNA: Doch, manchmal habe ich ihnen zu Ehren ihre Bilder in den Kirchen bekränzt.Der Prozess (1978), 68