Fjodor Dostojewskij: Verbrechen und Strafe. Fischer 2021

Mit Verbrechen und Strafe (oder auch Schuld und Sühne) hat der erstklassige russische Autor Dostojewskij in dem meisterhaften Roman eine Personenstudie des brutalen Möders Raskolnikow vorgelegt.


Er beschreibt das Leben eines überbegabten, aber bitterarmen Studenten. Die Gefühle seiner eigenen Überlegenheit und Eitelkeit treiben ihn zum blutigen Mord an einer unschuldigen Geldleiherin und ihrer geistig eingeschränkten Schwester. Trotz aller theoretischen Rechtfertigung plagt ihn die große Last seiner Schuld, die ihn in den Wahnsinn treibt.


Das Werk beschreibt seine Geschichte, seine Gedanken und seinen inneren Konflikt zwischen dem Hochmut über seine unentdeckte Bluttat und den ihn überraschend plagenden Gefühlen der eigenen Schuldigkeit: Ein Werk, das zur Reflexion über die Beichte und die Unvermeidbarkeit von Schuldgefühlen einlädt.

Ein PDF des Werkes in einer älteren Übersetzung findet sich hier.

Im Verlauf dieser Überlegungen versicherte er sich, daß er persönlich bei seinem Vorhaben von derartigen krankhaften Veränderungen nicht heimgesucht werden könnte, daß seine Umsicht und Willenskraft während der ganzen Zeit der Ausführung unerschüttert bleiben würden, schon aus dem Grunde, weil sein Unternehmen „kein Verbrechen“ war. – Übrigens spielten die wirklichen, rein materiellen Schwierigkeiten bei seinen Überlegungen eine untergeordnete Rolle. Man braucht nur seinen ganzen Willen und seinen Verstand zusammenzuraffen, und sie alle werden sich im gegebenen Augenblick meistern lassen, wenn es darauf ankommt, alle Einzelheiten bis zum kleinsten Punkt zu überschauen. Aber die Sache hatte sich festgefahren.

Fjodor Dostojewskij: Schuld und Sühne. Übertragen von Benita Girgensohn, Bertelsmann Lesering 1963, S. 79.

Die Alte ist Unsinn! dachte er fieberglühend und abgerissen. Die Alte war vielleicht ein Fehler, aber darum handelt es sich nicht! Die Alte war nur eine Krankheit. Ich wollte schneller hinwegschreiten – ich habe nicht einen Menschen getötet, ich habe einen Grundsatz getötet! Den Grundsatz habe ich wohl getötet, aber ich bin nicht darüber hinweggeschritten, bin auf dieser Seite geblieben – ich habe nur verstanden zu töten. Und auch das habe ich nicht verstanden, wie sich herausstellt. -Warum hat vorhin der Einfaltspinsel Rasumichin auf die Sozialisten geschimpft? Sie sind fleißige, betriebsame Leutchen, beschäftigen sich mit dem „allgemeinen Glück“. Nein, mir ist das Leben einmal gegeben, und nie kommt es wieder; ich will „das allgemeine Glück“ nicht abwarten. Ich will selber leben, sonst lieber gar nicht leben. Was denn? Ich wollte nur nicht an einer hungrigen Mutter vorbeigehen und meinen Rubel in der Tasche festhalten in Erwartung des „allgemeinen Glücks“. Ich trage ja auch mein Scherflein bei zum „allgemeinen Glück“. Warumbin ich übergangen worden? Ich lebe doch nur einmal und will doch auch . . . Ach, was für eine ästhetische Laus bin ich und wreiter nichts! Er lachte plötzlich wie ein Irrer auf!

Fjodor Dostojewskij: Schuld und Sühne. Übertragen von Benita Girgensohn, Bertelsmann Lesering 1963, S. 288-289.

„Es war ja auch so! Also : Ich wollte ein Napoleon werden, darum habe ich gemordet. Ist es dir jetzt verständlich?“ „Nein“, flüsterte sie naiv und schüchtern, „aber sprich, sprich, ich werde alles verstehen! Ich werde auf meine Weise alles verstehen!“ bat sie inständig. „Du wirst alles verstehen? Nun, wir wollen sehen!“ Er schwieg und überlegte lange. „Die Sache ist die: Ich habe mir einmal folgende Frage vorgelegt: Wenn zum Beispiel Napoleon an meiner Stelle gewesen wäre und wenn er, um seine Laufbahn zu beginnen, weder Toulon noch Ägypten, noch den Übergang über den Montblanc gehabt hätte, sondern wenn statt all dieser schönen und monumentalen Dinge einfach eine lächerliche Alte, eine Registratorswitwe dagewesen wäre, die man noch obendrein hätte ermorden müssen, um aus ihrer Truhe Geld zu stehlen, nämlich für die Laufbahn – würde er sich dazu entschlossen haben, falls es keinen anderen Ausweg gegeben hätte? Wäre er davor zurückgescheut, weil es schon gar zu wenig monumental ist und weil es sündhaft ist? Nun, ich muß dir sagen, daß ich mich mit dieser Frage furchtbar lange abgequält habe, so daß ich mich sehr schämte, als ich endlich dahinterkam – ganz plötzlich verfiel ich darauf -, daß er nicht bloß nicht davor zurückgescheut wäre, sondern daß es ihm nicht einmal in den Sinn gekommen wäre, dies sei nicht monumental. Ja, er hätte gar nicht begriffen, warum man davor zurückscheuen sollte. Und falls ihm kein anderer Ausweg geblieben wäre, so hätte er die Alte erwürgt, bevor sie einen Mucks von sich hätte geben können, ohne alle Bedenken. Nun, und auch ich warf alle Bedenken von mir – und mordete – nach dem Beispiel großer Meister. Und genauso ist es gewesen! Es kommt dir komisch vor? Ja, Sonja, das Komischste dabei ist, daß es vielleicht
genauso war.“

Fjodor Dostojewskij: Schuld und Sühne. Übertragen von Benita Girgensohn, Bertelsmann Lesering 1963, S. 436-437.