Seit 2012 ist Hildegard Kirchenlehrerin. Sicher sind ihre Briefe nicht ihre erstes Lehrstück, doch sie tragen über fast 1.000 Jahre, die uns von ihr trennen, die leuchtend klaren Worte der Äbtissin zu uns, die dereinst mitten im göttlichen Licht stand, in dem sich ihr die Welt erschloss. Ihr Rat ist unermesslich klar und einfach, getragen von einer mittelalterlichen Sprache, die ganz biblisch durchdrungen ist.
Die Briefe sind online leider nicht zugänglich. Dafür gibt es hier ihre Visionen, unter dem Titel „Der Weg der Welt“, und hier das berühmte „Heilwissen“. Die anderen großen Schriften sind hier zu finden.
Nun aber einige Worte aus den Briefen:
Hildegard an den Laien Hartmut von Cuntichum
Die Gnade Gottes ist nahe bei dir und verleiht dir Freigebigkeit. Und sie bejaht dich; daher vertreibe sie nicht von dir. Denn ein pechschwarzer Vogel eilt von Norden zu dir und treibt mit dir sein Spiel. Und er entreißt deinem Herzen das Brandopfer, das du deinem Gott schenken solltest. Gott liebt nämlich die alleinige Treue, die du deiner Frau <costa> halten sollst. Und deshalb fliehe vor dem bösen Spiel des erwähnten Vogels. Jetzt aber erhebe deine Augen zu dem, der dich erschaffen und in seinem Blut gebadet hat. Und zeige Ihm deine Wunden und verlange von Ihm ein Heilmittel, weil jede nicht bekannte Sünde ein Schatz für den Teufel ist, wie jener Schatz, den ein unnützer Mensch unbrauchbarerweise in seinem Gefäß verwahrt. Ist aber eine Sünde vor Gott bekannt, entreißt Gott dem Teufel seine Beute. Bessere dich daher bezüglich deiner Sünden, bevor der Zorn Gottes über dich kommt, damit du nicht im Tod endest. Denn Gott bejaht dich, doch du verbirgst deine Augen vor Ihm. Und wenn du deswegen zu Gott eilen willst, wird Er dir helfen.
– Hildegard von Bingen: Im Feuer der Taube. Pattloch 1997, 523
Hildegard an den Nonnenkonvent (Rupertsberg)
O Töchter, die ihr den Spuren Christi aus Liebe zur Keuschheit gefolgt seid, und mich Armselige in demütiger Unterwerfung um der himmlischen Erwählung willen – zur Mutter erwählt habt, nicht aus mir, sondern aus der göttlichen Offenbarung heraus sage ich euch aus mütterlichem Herzen: Diesen Ort, die Ruhestätte der Reliquien des heiligen Bekenners Rupert, zu dessen Patronat ihr eure Zuflucht genommen habt, fand ich nach Gottes Willen unter augenscheinlichen Wundern zum Opfer des Lobes. Und mit Genehmigung meiner Vorgesetzten kam ich zu ihm und habe ihn für mich und alle, die mir folgten, mit der Hilfe Gottes frei erworben. Danach aber begab ich mich auf Gottes Mahnung zum Berg des heiligen Disibod, den ich mit Erlaubnis verlassen hatte, und stellte vor allen dort Wohnenden den Antrag, daß nämlich unsere Wohnstätte und auch der als Schenkung vermachte Grundbesitz nicht von ihnen abhängig, sondern losgelöst sein sollten. Bei dieser praktischen Angelegenheit trachtete ich damals trotzdem nach dem Heil unserer Seelen und dem Eifer für die reguläre Disziplin. Und diese Freiheit bestätigten mir alle mit dem Versprechen, eine Urkunde auszustellen. Alle aber – Größere und Geringere – die dies sahen, hörten und vernahmen, brachten der Sache größtes Wohlwollen entgegen, so daß sie nach Gottes Willen schriftlich festgelegt wurde. Dies sollen alle, die Gott anhangen, erfahren, hören und mit Wohlwollen diese Rechtsangelegenheit bestätigen, durchführen und verteidigen, damit sie jenen Segen empfangen, den Gott Jakob und Israel spendete. Doch o welch große Klage werden diese meine Töchter nach dem Tod ihrer Mutter erheben, wenn sie an der Brust ihrer Mutter nicht mehr sau- gen und unter Seufzen und Trauer und lange Zeit hindurch mit Tränen sprechen werden: Ach, ach, wir würden gern an der Brust unserer Mutter trinken, wenn wir sie jetzt noch leibhaftig unter uns hätten! – Deshalb, o Töchter Gottes, ermahne ich euch: Habt Liebe zueinander – wie ich, eure Mutter, euch von meiner Jugend an ermahnt habe – damit ihr mit den Engeln wegen eures Wohlwollens hellstrahlendes Licht und ganz tapfer in eurer Kraft seid, wie euer Vater Benedikt euch gelehrt hat.
– Hildegard von Bingen: Im Feuer der Taube. Pattloch 1997, 372