Das „Salve Regina“ kennt (und liebt) nahezu jeder Katholik. Doch nur wenigen ist die Person bekannt, die als Verfasser der ergreifenden Marianischen Antiphon gilt: Hermann von Altshausen, genannt Hermann der Lahme oder Hermann Contractus, ein Mönch aus dem 11. Jahrhundert, der auf der Klosterinsel Reichenau bei Konstanz am Bodensee gelebt und gewirkt hat. Sr Maria Calasanz Ziesche hat ihm mit Die letzte Freiheit einen historischen Roman gewidmet und ein würdiges Denkmal gesetzt.
Sein Beiname „der Lahme“ kam nicht von ungefähr: Hermann von Altshausen litt seit frühester Kindheit an einer seltenen muskulären Erkrankung, die mit Lähmungserscheinungen einherging und ihn immer wieder an Rollstuhl und Bett fesselte, ohnmächtig der Hilfe anderer sowie der schmerzhaften Willkür seiner Krankheit ausgeliefert. So schildert es zumindest die Autorin auf Basis der Überlieferung aus der Chronik seines Schülers Berthold von Reichenau. Körperlich leidend und machtlos, ist Hermanns Geist umso tätiger und er brilliert als Theologe, Historiker, Musiker, Mathematiker und Wissenschaftler. Auch sein Herz wird durch die körperlichen Leiden nur weiter und sein Glaube tiefer. Die innere Freiheit, die er im Laufe des Romans gewinnt und die tief beeindruckt, ist allerdings hart erkämpft und musste in vielen Schlachten errungen werden.
Die Beschreibung seines inneren Ringens, der Schmerzen und Siege, ist die große Stärke dieses Buches. Man kann während der Lektüre nicht unbewegt bleiben und erlebt sich auf wundersame Weise durch Hermanns Kampf selbst inspiriert, erbaut und getröstet.
Auch wird man nach der Lektüre das „Salve Regina“ mit neuen Augen singen und beten, im Gedenken an und in Vereinigung mit seinem Verfasser, der aus den Tiefen seines Leidens durch Gottes Gnade derartige Schönheit entstehen ließ.
Diesem Geheimnis muss Hermann sich jedoch zuerst selbst öffnen lernen:
„Gott ist die Liebe. In dieser Karfreitagsnacht vor dem Kreuze versteht er, soweit dies einem Menschen überhaupt gegeben sein kann, was es um die Liebe Gottes ist, um die erbarmende Erlöserliebe zu ihm, Hermann von Altshausen. Und der Herr läßt ihn erkennen, daß sein Lahmsein, seine Pein, seine Schmerzen und sein Ausgesondertsein mehr sind als Last. Sie sind Anteil an Seinem Kreuze und somit Gnade und Angebot. In dieser Stunde vernimmt er die Frage Gottes in seinem Leiden:
‚Hermann, Sohn des Wolfrad, liebst du Mich, und bist du bereit, mit Mir die Welt heimzuholen in die Liebe des Vaters durch dein liebendes Leiden?‘
Da birst das letzte Eis in seiner Seele. Frei, von allen Fesseln gelöst, fließt der Strom dahin.
‚Ja, Herr, ja! Ich möchte Dich lieben…‘
Neues Leben, Neuwerden in Christus… der letzte Mosaikstein ist eingefügt. Das Bild zeigt Christus, den Herrn. Christus ist das Leben, das allumfassende Leben.
‚Christus ist mein Leben!‘
Das innere Glück droht die arme Hülle des siechen Körpers zu sprengen. Hermann hebt die zitternden Hände empor.“
Maria Calasanz Ziesche: Die letzte Freiheit. Schwestern Unserer Lieben Frau 1989, S. 102+103.
Am Ende seines Lebens kann er seinem Scholar Berthold erklären:
„Freund, wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, dem Herrn vorschreiben zu wollen, wie weit Er gehen darf. Haben wir unser Ja zur Oblatio gesagt und uns bereit erklärt, Brot in Seinen Händen zu sein, dann dürfen wir keine Bedingungen stellen. Hingabe ohne Schranken ist schwer, sehr schwer, Berthold. Aber der Herr nimmt unseren Opferwillen ernst. Er kommt und hilft uns, Opfergabe zu werden. […]
Wir dürfen nur bis zu einem bestimmten Punkt in das Geheimnis eines Lebens eindringen, auch in das Geheimnis unseres eigenen Lebens. Aber es gibt einen Raum der innersten Gnade in einer Seele, in dem Gott antwortet, wenn wir Seinen Willen an uns geschehen lassen. Wer nur noch Brot in Seinen Händen sein will, der spürt, wie der Herr das Brot bricht; aber erfährt auch im Brechen, daß Gott ihn nicht vernichtet, sondern ihn immer mehr aufnimmt in Seine Liebe.’“
Maria Calasanz Ziesche: Die letzte Freiheit. Schwestern Unserer Lieben Frau 1989, S. 321+322.
Der Beuroner Kunstverlag hat Die letzte Freiheit, sowie zwei andere historische Romane der Autorin rund um die Reichenauer Abtei als optisch passende Trilogie neu aufgelegt: Die leeren Hände (über Abt Berno, Hermanns Mentor) und Stab und Quelle (über den hl. Pirmin, den Gründer des Klosters).