Eine Auflistung der lesenswertesten christlichen Bücher ohne ein Buch über Maria, die Mutter Gottes? Undenkbar. Der belgische Jesuit Jean Galot hat 1962 dieses gut lesbare Werk verfasst, eine verständliche, doch umfassende Einführung in die Mariologie. Wie bei jeder Beschäftigung mit der Gottesmutter wird man unweigerlich näher zu Gott selbst geführt und gelangt zu einem vertieften Verständnis der göttlichen Dreifaltigkeit. Als Ausgangspunkt nimmt Galot das Herz Mariens und legt in drei Teilen die verschiedenen Aspekte ihres Lebens und ihrer Berufung dar – von der Erwählung über die Entfaltung bis hin zu Leid und Herrlichkeit.
Lesen wir hinein in die ersten Seiten, die durch die biblische Szene der Verkündigung durch den Engel zurückblicken zum Geheimnis von Marias Empfängnis selbst:
„Beim Eintauchen in die Tiefe der Seele Mariens drang der Blick des Engels zurück bis zum Anfang ihres Lebens. Er sah zurück bis zur Geburt, wo Maria einen Namen erhalten hatte mit der Bedeutung ‚von Gott geliebt‘. Aber selbst über die Geburt hinaus drang er weiter bis zum ersten Augenblick ihres Daseins, denn seit der Empfängnis war die Jungfrau Gegenstand außerordentlicher Liebe. Keinen Augenblick entbehrte Maria die Fülle der Gnade. Bevor ihr leibliches Herz gebildet war und lange bevor das erste Aufleuchten des Bewusstseins ihre Seele erhellte, hatte die Liebe Gottes Besitz genommen von ihrem ganzen Wesen. Diese Liebe schuf ihr Herz, als sie noch keines hatte. Es war ein feierlicher Augenblick, der Augenblick ihrer Unbefleckten Empfängnis. […]
Die Seele Mariens gehörte also vom ersten Augenblick Gott an, vorerst in ihren unbewussten Tiefen. Der Urgrund ihres seelischen Lebens war von der göttlichen Gnade erfüllt und diese Gnade hat die Entfaltung ihrer Persönlichkeit gelenkt. Die Gnade fand in ihr keinen Widerstand. Nicht die geringste Spur der Sünde belastete das Erbgut Mariens und drängte es zum Bösen hin. Es war kein Zwiespalt in ihr, der Komplexe verursachen oder das Gleichgewicht ihrer Persönlichkeit hätte stören können: Unter der allmächtigen Wirkung der Gnade herrschte Harmonie in ihrer Seele […]. Im Herzen der Jungfrau war nie Unordnung, nie Unbeständigkeit noch irgendeine Schwäche, weil Gott lange vor dem Erwachen dieses Herzens in es eingegriffen hatte, weil er der Seele Mariens nicht erlaubte, auch nur einen Augenblick zu leben, ohne in seine Liebe eingehüllt zu sein.“
Jean Galot: Das Geheimnis Mariens, Media Maria 2023, S. 19-21.
Doch wie verträgt sich dieses Auserwähltsein mit der menschlichen Freiheit?
In diesem Augenblick sandte er einen Engel, der Maria über die Tragweite dieser Gnade aufklärte und damit auch über die Tragweite der Zustimmung, die von ihr verlangt wurde. Die Gnade der Unbefleckten Empfängnis war Maria im Hinblick auf ihre göttliche Mutterschaft gewährt worden. Der Engel gab ihr zu verstehen, dass ihr eine außerordentliche Gnade zuteilgeworden sei, damit sie die Mutter des Messias und des Sohnes Gottes werden könne, und er verlangte eine Antwort.
Es war Maria völlig überlassen zu antworten, wie sie wollte. Die ihr von Gott schon bei der Empfängnis geschenkte Gnade war ihr Eigentum geworden. Alles in ihrer Seele war durch göttliche Einwirkung geformt, alles kam von Gott, aber gleichzeitig gehörte ihr alles, denn vonseiten Gottes lag ein wirkliches Geschenk vor, ein unwiderrufliches, reueloses Geschenk. Die Fülle der Gnade war in ihrem Herzen. […] Die Antwort war vorbehaltlos, wie es die göttliche Gnade gewesen war. Maria will ihrer Zustimmung die Weite des göttlichen Willens als Maßstab zugrunde legen: ‚Es geschehe mir nach deinem Wort!‘ Sie will, dass Gottes Wort ihr Leben völlig beherrsche. Im griechischen Text hat dieser Satz den Unterton eines Wunsches, die Wunschform eher als die Möglichkeitsform. Und das bezeugt die Ursprünglichkeit, mit welcher Maria zustimmt: Für sie heißt es nicht, einem Befehl zu gehorchen, sondern im Herzen eine Neigung zu besitzen, die mit dem Willen Gottes übereinstimmt. […] In diesem Augenblick nimmt Maria in voller Einsicht und ganzem Willen die Gande an, die in ihr war seit ihrer Unbefleckten Empfängnis. […] So hatte sich das unbefleckte Herz der Jungfrau vollkommen geformt und entfaltet. Damit ein Herz wahrhaft geformt wird in Hinsicht auf die übernatürliche Bestimmung des Menschen, muss vorerst Gott mit seiner Gnade wirken. Er muss den Menschen fähig machen, ihn zu lieben; darauf muss der Mensch seine Liebe frei erwidern.
Jean Galot: Das Herz Mariens, Media Maria 2023, S. 22-25.
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