Sigrid Undset: Gymnadenia. Rütten & Loening 1929.

Vor allem für ihre herausragende Historische Roman-Trilogie Kristin Lavranstochter gelobt und bekannt, die auf mehreren unserer ad-fontesLeselisten zu finden ist, hat die norwegische Nobelpreisträgerin auch im Genre der Gegenwartsliteratur Großartiges verfasst, von dem das meiste sich bedauerlicherweise jedoch nur noch antiquarisch aufstöbern lässt: Wie Gymnadenia, der erste von zwei Teilen einer Erzählung um den jungen Norweger Paul Selmer. Gegenwart meint hier Undsets Gegenwart: Der Roman spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um das Jahr 1905 und endet mit Beginn des Ersten Weltkrieges.

Paul wächst zusammen mit seinen drei Geschwistern im Haushalt einer freigeistigen Mutter auf, die ihre Kinder (und sich selbst) dem spießbürgerlichen Mief des traditionellen großbürgerlichen Vaterhauses entziehen und in frischer Luft zu freien, edlen Menschen erziehen will. Das gelingt auch weitestgehend – charakterlich stark und voller Tatendrang, selbstbewusst und gebildet, also bestens gerüstet, zieht Paul zum Studium in die Stadt. Die Erlebnisse, die ihn im Laufe des Romanes prägen, konfrontieren ihn jedoch immer wieder mit einer Wirklichkeit, die nicht edel ist, nicht ideal, nicht so, wie er sie sich erträumt und ersehnt, und die er trotz besten Absichten und aufrichtiger Anstrengung nicht richten kann. Etwas Unverhofftes begegnet ihm jedoch und zieht in an: Der katholische Glaube. Eine katholische Familie, bei der er zeitweilig wohnt, eine ehemalige Schulfreundin, die katholisch geworden ist, ein junger Priester, den er sehr schätzt, und vor allem der Besuch einer heiligen Messe – all dies übt eine faszinierende Wirkung auf Paul aus und beginnt, in seinem Inneren zu arbeiten, langsam, unaufdringlich, gleichsam im Hintergrund, aber stark und unaufhaltsam.

Konvertieren wird Paul im ersten Teil noch nicht, so viel sei verraten, aber es gibt ja glücklicherweise noch die Fortsetzung: Der brennende Busch.

Hier ein Auszug aus der Schilderung von Pauls erstem Messbesuch:

Und je mehr es Paul klar wurde, daß der Gottesdienst jetzt im vollen Gange war, und je länger die tiefe Stille in dem leeren, sonnigen Raum durch nichts unterbrochen wurde und die wenigen Menschen in den Betstühlen weiterhin knien blieben, als seien sie völlig in sich versunken, desto mehr fühlte er sich von allem angezogen. Wahrlich, das hier war in gewissem Sinne schön; er glaubte plötzlich zu begreifen, was die Menschen meinten, wenn sie von dem unsichtbaren Gott sprachen – hier konnte er sich vorstellen, daß Priester und Gemeinde beisammen waren, um etwas Unsichtbares anzubeten. Einen anderen Sinn konnte dieser Gottesdienst doch unmöglich haben […]. Und zum erstenmal in seinem Leben glaubte er eine gewisse Vernunft im Gottesdienst erblicken zu können – in dieser schweigenden Anbetung konnte er sich vorstellen, daß ein Wesen anwesend war und die Seelen in sich aufnahm.

Sigrid Undset: Gymnadenia. Rütten & Löning 1929. S. 101+102.

Ein weiterer großartiger zweibändiger Konversionsroman: Das Schweißtuch der Veronika von Gertrud von le Fort.